Muzaffer Ayata, Mitglied des Zentralkomitees der PKK, fordert im dritten Teil seines ANF-Interviews den türkischen Staat auf, seine Haltung gegenüber der kurdischen Frage zu ändern und seine seit einem Jahrhundert ergebnislose Politik der Verleugnung und Vernichtung aufzugeben.
Warum betrachtet die aktuelle türkische Regierung die kurdische Frage als „Terrorfrage“?
Die kurdische Frage ist ein 100 Jahre altes Problem und begann in der Türkei mit der Gründung der Republik. Ihr Aufbau hat dieses Problem geschaffen. Gab es eine PKK, als Şêx Saîd und Seyîd Riza und Zehntausende von Menschen massakriert und verbannt wurden? Es handelt sich um ein historisches soziales Problem. Nach der Verfassung gibt es keine Kurden, alle sind Türken. Der Staat will jeden zum Türken machen. Das ist aber keine Gottesbefehl oder Naturgesetz. Die Kurdinnen und Kurden wollen keine Türken sein. Der Staat verfolgt diese Politik seit 100 Jahren und ist damit gescheitert. Damit sollte Schluss sein, die Verfassung muss neu geschrieben werden.
Kurden und Türken leben zusammen auf einem Gebiet. Sie haben viele Gemeinsamkeiten. Warum gibt es so viel Blutvergießen, Gewalt und Verleugnung? Es gibt in den vier Teilen Kurdistans etwa 40 Millionen Kurdinnen und Kurden. Sie haben einen Status im Süden, und in Rojava entwickelt sich ein anerkannter Status. Um auch das zu ruinieren, hat der türkische Staat die Hölle losbrechen lassen. Die Türkei hat all ihre wirtschaftlichen Ressourcen und ideologischen und geistigen Reserven dafür aufgebraucht. Was passiert, wenn die AKP/MHP-Allianz eine weitere Wahl gewinnt? Was würde passieren, wenn das Regime noch mehr Kurdinnen und Kurden tötet und leiden lässt? Man kann die Geschichte nicht zurückdrehen, man kann sie nicht konstruieren und schreiben, wie man will. Wenn das der Fall war, hätte Mustafa Kemal es bereits getan.
Wenn die kurdische Frage anders angegangen worden wäre, wie sähe die Situation heute aus?
Die Türkei wäre heute nicht so isoliert und in der Welt diskreditiert, wenn sie nicht gegen die Kurden Krieg führen würde und wenn sie sich nicht kopfüber in den Krieg in Syrien gestürzt hätte. Sie hätte nicht alle ihre internen und externen Ressourcen ausgeschöpft. Im Gegenteil: Die Kurdinnen und Kurden wären zu einer Brücke zwischen Syrien, der Türkei und dem Irak geworden. Mit einem demokratischen Modell wäre die Türkei der aufgehende Stern des Nahen Ostens gewesen. Die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen hätten sich auf einem viel höheren Niveau entwickelt. Die Türkei wäre reich geworden und hätte problemlos der Europäischen Union beitreten können. Es gäbe kein Hindernis für den Beitritt zur Europäischen Union.
Wie groß ist der Schaden, den diese Kriegspolitik im Nahen Osten angerichtet hat?
Die Türkei hat sich in den Krieg in Syrien gestürzt und Syrien mit Krieg überzogen. Die Söldner des IS konnten für diesen Krieg problemlos über die Türkei nach Syrien einreisen. All dieses Übel richtete sich gegen das kurdische Volk. Der türkische Staat hetzte den IS auf die Kurdinnen und Kurden. Während die ganze Welt gegen den IS kämpfte, unterstützte die Türkei ihn. Man wollte die Kurden, insbesondere in Syrien, ersticken und vernichten. Die Kurdinnen und Kurden haben hart gekämpft und einen hohen Preis für den Kampf gegen den IS gezahlt. Gemeinsam mit den arabischen Bevölkerung säuberten sie die Gebiete und begannen, sie gemeinsam zu verwalten. Trotz des türkischen Drucks hat sich die arabische Bevölkerung nicht mit den Söldnern und der Türkei zusammengetan. Gemeinsam mit den Kurdinnen und Kurden haben sie ihre eigene Linie verfolgt und traten auch dem syrischen Regime gegenüber nicht feindlich auf. Denn den Kurdinnen und Kurden ging es um ihre eigene Identität und ein freies Leben. Sie mussten nicht mit jemandem verfeindet sein oder jemandem nacheifern. Die Türkei hat dies nicht verdaut. Sie versammelte alle Söldnergruppen in Syrien um sich und ließ sie die kurdische Bevölkerung angreifen. Diese Söldner sind jetzt eine Geißel für Türkei. Die faschistische Demagogie in der Türkei verbreitet die Ansicht, die Kurden und die PKK seien die Fußfessel der Türkei und wenn sie besiegt werden, werde die Türkei die Welt erobern. Mit solcher Demagogie wird die eigene Bevölkerung getäuscht.
Die Ketten und schwarzen Flecke sind der IS und al-Nusra. In Syrien werden Mörder auf die Bevölkerung losgelassen. Die besetzten Gebiete haben sich in ein Paradies für Mörder, Verbrecher und Söldner verwandelt. Die Türkei ist heute eine große Bedrohung für die weltweite Sicherheit. Die arabische Welt hat ihre schützenden Hände von den Muslimbrüdern, dem IS und al-Nusra zurückgezogen. Beachten Sie, dass kein arabisches Land diese Gruppen noch unterstützt. Sie akzeptieren sie nicht auf ihrem Territorium. Aber Erdoğan macht das. Er bedroht damit die arabische Welt. Die Türkei erpresst Europa mit den von ihr aufgenommenen Flüchtlingen. Sie droht sogar, den IS und andere Organisationen in Europa ins Spiel zu bringen. Denn er hat sie immer zur Hand.
Wenn wir genau hinschauen, wurden alle Anführer des IS, al-Baghdadi und al-Quraishi, in den Gebieten unter türkischer Besatzung getötet. Die sicheren Zonen für die Führungskräfte des IS sind die Gebiete unter türkischer Kontrolle. Einige von ihnen wurden bei Operationen (von QSD und Koalition) getötet oder gefangen genommen. Es gibt auch diejenigen, die nicht gefangen genommen wurden, die nicht sehr bekannt sind. Sie setzen auf die Türkei. Die Türkei sponsert sie und wenn der türkische Staat will, dann wechseln sie ihre Namen. Die ganze Welt hat al-Nusra zu einer terroristischen Organisation erklärt. Die Türkei musste das ebenfalls tun, aber sie hat für al-Nusra (in Idlib) ein Königreich errichtet. Die türkische Armee schützt sie.
Die Risse im inneren Gleichgewicht der Türkei werden immer deutlicher. Währenddessen geraten gewählte Vertreter:innen des kurdischen Volkes immer mehr ins Visier. Was bedeutet das?
Die türkische Regierung hat sich in eine Vereinigung der organisierten Kriminalität verwandelt. Sie verfolgt eine Politik der Unterdrückung, der Täuschung und der psychologischen Kriegsführung gegen das eigene Volk; sie stellt sich gegen diejenigen, die Kritik üben, sich widersetzen, Gerechtigkeit und Demokratie fordern; sie grenzt diejenigen aus, die Frieden und Demokratie wollen, und erniedrigt sie. Stellen Sie sich vor, die Kurdinnen und Kurden haben nach türkischem Recht an den Wahlen teilgenommen. Ihre Unterlagen werden von den Staatsanwaltschaften geprüft, und man sagt ihnen, dass ihre Kandidatur bei den Wahlen kein Problem darstellt. Der Gewinner der Wahl wird dann als Terrorist bezeichnet. Bürgermeister:innen und Abgeordnete werden ins Gefängnis geworfen. Die Immunität wird in aller Eile aufgehoben.
Es gibt nichts, was Semra Güzel (inhaftierte HDP-Abgeordnete) nicht wegen eines gemeinsamen Fotos mit einem Guerillakämpfer angetan worden ist. Alle Sicherheitssysteme der Türkei wurden auf den Kopf gestellt. Die Türkei befindet sich im Prozess des Zusammenbruchs. Man tut so, als hätte man in der Türkei noch nie einen Guerillakämpfer gesehen. So als ob die Guerilla aus dem Weltraum gekommen wäre. Kurdinnen und Kurden sollen nichts mit einander zu tun haben, sich nicht grüßen und nicht treffen. Sie werfen die Menschen regelrecht in den Topf und kochen sie und tanzen dann herum und freuen sich, sie zu fressen. Oh, wir haben Semra erwischt – was für eine Operation … Sie haben kein Schamgefühl. Semra Güzel ist eine Abgeordnete. Ihre Immunität wurde zu Unrecht aufgehoben und sie wird als Verbrecherin dargestellt.
Während dessen versammeln sich alle Räuber und Verbrecher um die Regierung. Innenminister Soylu ist mit allen von ihnen auf Bildern erschienen. Gegen sie wird kein Verfahren eröffnet. Sie werden nicht bloßgestellt. Sie sind die Elite des Landes, ehrenwerte Männer. Sie sind die Favoriten von Erdoğan. Erdoğan ist ein Mensch, der in jeder Hinsicht am Ende ist.
Merkel war 16 Jahre lang Kanzlerin. Sie hat ihr Amt mit Respekt und nach den Regeln übergeben, aber Erdoğan spielt das Spiel nicht nach den Regeln. Heute sagen alle in der Türkei, auch oppositionelle Kreise, dass Erdoğan einen Bürgerkrieg anzetteln wird. Erdoğan wird die Wahl fälschen. Erdoğan wird den Ausnahmezustand ausrufen. Erdoğan wird irgendwo einen Krieg anfangen. In einem Umfeld von Krise und Chaos wird er jedoch entweder die Wahlen gewinnen oder sie verschieben. Oder er wird sie aussetzen. Diese Optionen werden derzeit diskutiert. So etwas wurde in der Zeit von Ecevit und Mesut Yılmaz nicht diskutiert. Seit 20 Jahren ist Erdoğan an der Macht und hat das Land in diesen Zustand gebracht. Die Türkei hat alle demokratischen Konventionen gebrochen. Er hat alle Institutionen dysfunktional gemacht, sie ausgehöhlt und an sich gebunden. Er hat ein Regierungsmodell im Stile Hitlers geschaffen. Wenn man Hitlers Regierungsstil analysiert, kann man sehen, wie ähnlich sie sich sind.
Wie ist dies in die Geschichte der Türkei einzuordnen?
Die Herrschaftstechnik basiert auf der Aushebelung des Rechts durch Krisen und Chaos. In der Geschichte der Türkei wurde das Recht noch nie so massiv diskreditiert wie heute. Selbst in der Zeit nach dem 12. September (Putsch 1980) war das nicht so. In die Justiz wurde nicht so massiv eingegriffen. Richter und Staatsanwälte sind noch nie zu so billigen Spielfiguren gemacht worden. Die Orden in der Türkei waren noch nie so mächtig und reich. Sie waren nie so sehr der verlängerte Arm der politischen Macht. Es gab schon früher religiöse Gemeinden mit Beziehungen zur Regierung. Die Regierung profitierte von ihnen, und sie profitierten von der Regierung, aber nie in dem Ausmaß wie heute.
Die religiösen Gemeinschaften in der Türkei haben ihre spirituelle Seite verloren. Sie hörten auf, Institutionen im Dienste der Religion zu sein. Erdoğan hat sie ruiniert und fertig gemacht. Erdoğan hat dem Islam in der Türkei das größte Übel angetan. Er hat Erbakans gesamtes Erbe verschlungen. Nach 50 Jahren Arbeit war Milli Görüş in der Türkei zumindest eine Alternative, eine Hoffnung in islamisch geprägten Kreisen. Wir kritisieren sie, das ist eine andere Frage, aber Erbakan hatte Respekt in islamischen Kreisen. Er bezeichnete es als „ehrlichen Auftrag“. Erdoğan hat eine mafiöse Räuberbande geschaffen. Er hat eine Inflationsordnung herbeigeführt. Er spielt mit dem Aktienmarkt und den Zinssätzen. Die Menschen werden immer ärmer. Derzeit haben die Banken im Rahmen der Inflation ihren Gewinn vervierfacht. Die Lebenshaltungskosten sind aber in die Höhe geschossen. Trotz der Veröffentlichung falscher Zahlen über die Inflationsrate ist die Türkei in dieser Hinsicht Weltspitze.
Dies zeigt den Grad der Verarmung der Gesellschaft. Man raubt die Menschen aus, man nimmt ihnen alles, was sie haben. Alle Ressourcen und jeglicher Reichtum wird in bestimmten Kreisen konzentriert. Es gab eine Hoffnung, eine Suche, einen Traum von einer Zukunft im Islam. Jetzt hat Erdoğan sie verschlungen. Er hat die islamischen Gemeinden in der Türkei zerstört, sie ausgehöhlt. Er machte sie zur Stütze und zum Spielball der Macht. Er hat sie an die Regierung angebunden. Er gab ihnen materiellen Reichtum und nahm ihnen Spiritualität. Er hat sie alle entkernt und ihren Geist erstickt. Erdoğan strebt so verzweifelt nach Macht, dass er nicht loslassen will, selbst wenn er dabei stirbt. Er sagt, das Heimatland sei in Gefahr, es sei eine Frage des Überlebens. Man sei von Feinden umgeben, die Imperialisten griffen an, er leiste Widerstand gegen die Welt ... Das ist alles Blödsinn. Er geht zu allen Imperialisten der Welt und bittet sie: „Unterstützt mich, lasst uns einen Deal machen, ich werde Zugeständnisse machen.“ Das sagt er.
Die Türkei wird Putin ausgeliefert. Noch nie zuvor, auch nicht in der osmanischen Geschichte, hat die Türkei so viele Zugeständnisse an Russland gemacht. Ausschreibungen für Atomkraftwerke, Raketensysteme, die nicht genutzt werden können, Milliarden von Dollar, alles für Erdoğans Regime. Gleichzeitig unterzeichnet er mit der NATO Abkommen gegen Russland und sagt aber auch Putin, er solle kommen und man werde die Kurden gemeinsam massakrieren. Dann werde er nicht am Embargo teilnehmen und Russland stützen.
Es ist offensichtlich, dass niemand, nur Erdoğan, einen Krieg in Syrien will. Er provoziert und bewaffnet alle seine Söldner. Er wird die Kurdinnen und Kurden oder das Regime angreifen. Er hat seine Armee vorbereitet und sagt: „Lasst mich gehen, ich werde die kurdischen Gebiete auflösen, ich werde die Kurden von dort entfernen und sie durch Söldner ersetzen". Er kündigt einen Völkermordplan gegen die Kurdinnen und Kurden an.