Ankara-Angriff: GfbV fordert internationale Untersuchung

Nach dem Angriff auf die türkische Drohnenindustrie in Ankara fordert die Gesellschaft für bedrohte Völker eine unabhängige internationale Untersuchung und kritisiert die deutsche Politik für ihre Ignoranz gegenüber tagtäglichen Angriffen in Kurdistan.

Kritik an deutscher Politik

Nach dem gestrigen Angriff auf die türkische Drohnenindustrie in Ankara fordert die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) eine unabhängige internationale Untersuchung. Diese müsse klären, wer wirklich hinter dem Anschlag stecke: „Erdoğan und mit ihm der gesamte türkische Staat haben nicht einmal die Ergebnisse ihrer eigenen Untersuchung des Anschlags abgewartet, um mit der Bombardierung kurdischer Städte und Dörfer in Nordsyrien zu beginnen“, berichtete der GfbV-Nahostreferent Dr. Kamal Sido am Donnerstag in Göttingen. Zahlreiche Orte in der Autonomieregion Nord- und Ostsyriens, aber auch Südkurdistans werden seit vergangener Nacht von der türkischen Armee bombardiert. Sido kritisierte: „Deutsche Spitzenpolitiker haben schon wenige Minuten nach dem Anschlag ihre Solidarität mit dem NATO-Partner erklärt. Dass dieser tagtäglich Städte und Dörfer von Kurden, Assyrern/Aramäern, Yeziden, Christen und Aleviten in Nordsyrien und im Nordirak mit Kampfflugzeugen, Kampfdrohnen, Raketen, Artillerie oder Panzern angreift, ist der deutschen Politik hingegen nicht einmal einen Appell zum Schutz der Zivilbevölkerung wert.“

GfbV: Unverantwortlicher Umgang der deutschen Politik mit Erdoğan

Die GfbV hatte vor wenigen Tagen an die Bundesvorstände der SPD, FDP und den Grünen appelliert, eine offene und ehrliche Diskussion über den unverantwortlichen Umgang der deutschen Politik mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan und dem Islamismus zu beginnen. „Olaf Scholz und Annalena Baerbock schaden dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland, indem sie sich nicht für Frieden und Verhandlungen zwischen der Türkei und den Kurden einsetzen. Sie fordern nicht einmal die Freilassung kurdischer Politiker wie Selahattin Demirtaş oder Abdullah Öcalan“, beanstandete Sido. Demirtaş sitzt wie zehntausende andere kurdische Politiker:innen seit 2016 im Gefängnis, weil er sich für Frieden und Verhandlungen einsetzt, und weil er Erdoğans Unterstützung oder Duldung des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) und anderer Islamisten anprangerte, betonte der GfbV-Vertreter.

Öcalan bietet Verhandlungen an

Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) fordert seit Jahren die Freilassung von Demirtaş. Aus dem Gefängnis heraus verurteilte der frühere HDP-Vorsitzende den Angriff scharf und forderte alle Seiten auf, Gewalt, Terror und Krieg zu beenden und miteinander zu reden. Abdullah Öcalan ist seit einem Vierteljahrhundert (1999) auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali inhaftiert, seit Jahren in Isolationshaft. Am gestrigen Mittwoch fand zum ersten Mal nach dreieinhalb Jahren Funkstille wieder ein Besuch auf der Insel statt. Der DEM-Abgeordnete Ömer Öcalan, der zugleich Neffe des kurdischen Vordenkers ist, konnte Öcalan im Gefängnis sehen. „Die Isolation geht weiter. Wenn die Bedingungen entstehen, habe ich die theoretische und praktische Kraft, diese Phase von der Grundlage des Konflikts und der Gewalt auf eine rechtliche und politische Grundlage zu lenken“, soll Abdullah Öcalan demnach bei dem Treffen geäußert haben. 

Wem nützen Gewalt, Terror und Krieg?

„Erdoğan und seine Fürsprecher in der NATO scheinen diese Aufrufe zum Ende von Gewalt, Terror und Krieg nicht zu interessieren. Es bleibt die Frage: Wem nützen Gewalt, Terror und Krieg? Sicher nicht der kurdischen Zivilbevölkerung, auch nicht den Menschen in der Türkei. Nur Politiker, die Gewalt, Terror und Krieg für ihre machtpolitischen Interessen instrumentalisieren und der militärisch-industrielle Komplex, der immer mehr Waffen verkauft und am Krieg auf Kosten Unschuldiger verdient, scheinen ein Interesse an mehr Krieg und Gewalt zu haben“, so Sido.

Ankara beschuldigt PKK und fliegt Vergeltungsangriffe

Bei dem Angriff auf eines der bedeutendsten Rüstungsunternehmen der Türkei waren am Mittwoch die beiden Angreifer:innen sowie weitere fünf Menschen in Ankara ums Leben gekommen, mehrheitlich Mitarbeitende des Unternehmens TUSAŞ. 22 Menschen wurden verletzt. Der türkische Staat macht die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) für den Angriff verantwortlich und hat seitdem zahlreiche Vergeltungsangriffe gegen Nord- und Ostsyrien, die Kurdistan-Region des Irak (KRI) und das ezidische Siedlungsgebiet Şengal verübt. Die PKK hat sich zu dem Anschlag bislang nicht geäußert.

„Neutralisierte Terroristen“ laut Selbstverwaltung Zivilist:innen

Das türkische Verteidigungsministerium gab vor, in beiden Ländern „Terroristen neutralisiert“ zu haben. Die Selbstverwaltung in Raqqa sowie die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) hingegen gaben an, dass die Türkei zivile Infrastruktur, Menschenansammlungen und Sicherheitskräfte angegriffen hat. Dabei seien mindestens zwölf Zivilpersonen getötet und 25 weitere Menschen teilweise schwer verletzt worden. Aus Şengal wurden bislang ein Toter und zwei Verletzte bestätigt. Dort wurden Wohnhäuser und ein Stützpunkt der Widerstandseinheiten YBŞ attackiert. Bei dem Todesopfer handelt es laut Angaben um einen Kämpfer der Selbstverteidigungsgruppe, die unter dem Eindruck des 2014 stattgefundenen IS-Genozids in Şengal gegründet worden war.