Neue Friedensgespräche oder ein politisches Ablenkungsmanöver?

Kommt es in der Türkei zu Friedensgesprächen? Oder handelt es sich um ein politisches Ablenkungsmanöver der AKP-Regierung und ihres ultranationalistischen Koalitionspartners MHP?

Analyse von Civaka Azad

Die jüngste Rede des Vorsitzenden der ultranationalistischen MHP, Devlet Bahçeli, in der Fraktionssitzung seiner Partei hat die politische Debatte in der Türkei schlagartig in eine völlig unerwartete Richtung gelenkt. Nach fast zehn Jahren ununterbrochenem Kriegszustand ist plötzlich von Friedensgesprächen zwischen den Kurd:innen und dem türkischen Staat die Rede. Seitdem beherrscht das Thema die Schlagzeilen der türkischen Medienlandschaft.

Die Journalistin Amberin Zaman vom Nachrichtenportal Al-Monitor berichtete bereits am 10. Oktober von Vorgesprächen des türkischen Staates mit dem inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan. Und am 1. Oktober kam es bei der Wiedereröffnung des türkischen Parlaments nach der Sommerpause zu ungewöhnlichen Szenen, als der rechtsextreme MHP-Vorsitzende Bahçeli den Abgeordneten der linken und prokurdischen DEM-Partei die Hand schüttelte.

Doch welche Ereignisse haben sich zugetragen?

Der Vorsitzende der ultranationalistischen Partei MHP, Devlet Bahçeli, hat sich gestern im Parlament zur Inhaftierung und Isolationshaft von Abdullah Öcalan geäußert, der seit 1999 auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftiert ist und von dem es seit mehr als drei Jahren kein Lebenszeichen mehr gibt. Bahçeli forderte ihn nun auf, vor dem türkischen Parlament eine Rede zu halten, in der er seine Kapitulation verkünden und das Ende der Aktivitäten der PKK einleiten solle. „Wenn er diese Entschlossenheit zeigt, dann ist der Weg für eine gesetzliche Regelung des Rechts auf Hoffnung frei und er kann davon profitieren“, so Bahçeli. Das „Recht auf Hoffnung“ bezieht sich auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem Jahr 2014, das die Türkei verpflichtet, Verurteilten, die eine lebenslange Haftstrafe ohne Bewährung verbüßen, die Möglichkeit einzuräumen, nach einer bestimmten Anzahl von Jahren aus der Haft entlassen zu werden.

Während Vertreter:innen anderer rechtsradikaler Parteien in der Türkei Bahçeli nach seiner Ansprache Verrat vorwarfen, erhielt er Unterstützung von Staatspräsident Erdogan, der von einem „historischen Fenster“ sprach, sowie vom Vorsitzenden der kemalistischen Oppositionspartei CHP, Özgür Özel. Letzterer erklärte: „Wenn dieses Land geeint ist und zusammenhält und keine Waffen auf unsere Soldaten gerichtet werden, dann ist jedes gesprochene Wort und jeder Akteur, der sich für diese Sache einsetzt, wertvoll“. Der CHP-Vorsitzende befindet sich aktuell auf einer Tour durch die Städte Nordkurdistans und hatte vor seinem Reiseantritt den inhaftierten kurdischen Politiker Selahattin Demirtaş besucht.

Angebliche Besuchserlaubnis bei Öcalan nicht bestätigt

Des Weiteren wurde die Information verbreitet, dass Ömer Öcalan, Mitglied der DEM-Partei und Neffe von Abdullah Öcalan, nach Genehmigung des Antrages die Gefängnisinsel Imrali besuchen dürfe. Die Information über eine Reise nach Imrali konnte bisher jedoch nicht bestätigt werden.

Die DEM-Partei bekräftigt derweil ihre Position, dass der Weg zur Lösung der kurdischen Frage, die anzuwendenden Methoden sowie die Adressaten klar definiert sind. „Der Ansprechpartner für den Frieden im Mittleren Osten und in der Türkei ist Herr Öcalan. Der Ort der Lösung ist das Parlament“, so die DEM-Partei.

Kommt es nun zu Friedensgesprächen? Oder handelt es sich um ein politisches Ablenkungsmanöver der AKP-Regierung und ihres ultranationalistischen Koalitionspartners MHP?

Diese Frage ist derzeit schwer zu beantworten. Fakt ist, dass konkrete Schritte bislang ausgeblieben sind. Es könnte zu einer politischen Entspannung mit der Möglichkeit von Friedensgesprächen kommen. Es könnte aber auch der Versuch der türkischen Regierung sein, durch eine Diskursverschiebung den politischen und gesellschaftlichen Druck etwas zu mildern. Selbst eine weitere Eskalation des Krieges in Kurdistan sowie eine Verschärfung der Menschenrechtsverletzungen in Kurdistan durch die Türkei sind denkbar.

Es lässt sich festhalten, dass die Türkei seit einem Jahrhundert kein aufrichtiges Interesse an einem Friedensprozess und einer demokratischen und friedlichen Lösung der kurdischen Frage gezeigt hat. Auch die gegenwärtige AKP-Regierung hatte mehrfach die Möglichkeit, ihre Bereitschaft zu einem Friedensprozess unter Beweis zu stellen. Dies ist jedoch nicht geschehen. Sie hat die von der PKK initiierten Waffenstillstände mehrfach einseitig aufgekündigt und den Krieg in ganz Kurdistan eskaliert, wie zuletzt 2015.

Daher muss die türkische Regierung nun ihren Worten zunächst durch praktische Schritte Glaubwürdigkeit verleihen. Auf kurdischer Seite gibt es den Willen zu einer friedlichen Lösung, aber weiterhin auch große Skepsis gegenüber den Worten des Regierungsblocks.

Inwieweit der heutige Anschlag auf das türkische Luft- und Raumfahrtunternehmen TUSAS, zu dem sich bislang niemand bekannt hat, Einfluss auf die weitere politische Entwicklung haben wird, ist derzeit ebenfalls nicht absehbar. Fest steht jedoch, dass sich die türkische Politik derzeit in einer schwierigen Situation befindet, die zu einer politischen Zäsur in der Türkei führen könnte. Über weitere Entwicklungen werden wir berichten.

Der Text ist aus einem aktuellen Newsletter von Civaka Azad - Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit.