Istanbul: „Gezi lebt und durchbricht die Barrikaden“

Zum 12. Jahrestag der Gezi-Proteste versammelten sich in Istanbul zahlreiche Menschen am Taksim, um der Getöteten zu gedenken und die Freilassung der Gezi-Gefangenen zu fordern. Trotz Absperrungen kam es zu einer Demonstration – und Polizeigewalt.

Polizeigewalt und zahlreiche Festnahmen

Zum Jahrestag des Beginns der Gezi-Proteste vor zwölf Jahren haben in Istanbul hunderte Menschen an die Toten des Aufstands erinnert und die sofortige Freilassung der sogenannten Gezi-Gefangenen gefordert. Obwohl die Behörden alle Zufahrten zum Taksim-Platz absperrten, versammelten sich zahlreiche Teilnehmer:innen – darunter Abgeordnete Parteien DEM, CHP und TIP – in der Mis-Straße unweit des Platzes.

Die Demonstrierenden trugen Transparente mit der Aufschrift „Gezi lebt, durchbricht die Barrikaden“ und „Die Dunkelheit geht, Gezi bleibt“. Zudem wurden Fotos der bei den Protesten ab Ende Mai 2013 Menschen gezeigt und Parolen wie „Überall ist Taksim, überall ist Widerstand“, „Schulter an Schulter gegen den Faschismus“ und „Tausend Grüße der Gefallenen und Kämpfenden von Gezi“ gerufen.


Kritik an autoritärem Kurs und Justiz

Eine Rede des Istanbuler Sprechers des Verbands der revolutionären Arbeitergewerkschaften (DISK) Adalettin Aslanoğlu verdeutlichte die Wut über den repressiven Umgang mit der Protestbewegung und ihren Unterstützer:innen: „Es wurden nicht nur die letzten Reste von Demokratie ausgeräumt, auch das Wort selbst hat seinen Wert verloren“, sagte Aslanoğlu.

Der Gewerkschafter verwies insbesondere auf das harte Urteil gegen den Kulturmäzen Osman Kavala, der trotz fehlender Beweise wegen versuchten Umsturzes der Regierung durch eine vermeintliche Organisierung der Gezi-Proteste zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, sowie auf weitere hohe Strafen gegen andere Aktive der Gezi-Zeit wie Can Atalay, Tayfun Kahraman und Çiğdem Mater.

„Die Justiz hat mit ihrer Bestätigung dieser Urteile durch das Kassationsgericht auch die Unschuldsvermutung abgeschafft.“ Zugleich kritisierte Aslanoğlu die Normalisierung von Rechtsbrüchen in Form von Zensur, Repression und politischen Sanktionen wie Amtsenthebungen oder politischen Berufsverboten: „Wer protestiert, wer twittert, wer berichtet – wird eingeschüchtert. Und das Unrecht wird zur Normalität.“

Polizeiliche Übergriffe und zahlreiche Festnahmen

Im Anschluss an die Reden kam es zu massiven Polizeiübergriffen. Sicherheitskräfte gingen gewaltsam gegen die Versammlung in der Mis-Straße vor und nahmen dutzende Personen fest. Auch in Seitenstraßen rund um den Taksim-Platz wurden Demonstrierende angegriffen und verfolgt. Die genaue Zahl der Festnahmen war bis Mitternacht nicht bekannt.

Der Gezi-Aufstand

Der Gezi-Aufstand begann am 27. Mai 2013, als die AKP-geführte Istanbuler Stadtverwaltung für ein geplantes Bauprojekt Bäume im zentralen Gezi-Park am Taksim fällen wollte. Damals stellten sich Mitglieder verschiedener Vereine, Berufsverbände und Initiativen vor die Baumaschinen und verhinderten die Abholzung. Unter ihnen war auch der damalige HDP-Abgeordnete Sırrı Süreyya Önder, der im Vormonat an den Folgen eines schweren Herzinfarkts verstorben ist und während der Gezi-Proteste mehrfach von der Polizei verletzt wurde. Aus der ersten von ihm mitinitiierten Aktion entstand eine Massenbewegung: Im Gezi-Park wurden Zelte aufgebaut, immer mehr Menschen beteiligten sich an der Mahnwache. Die lokalen Proteste weiteten sich schnell zu einer landesweiten Widerstandsbewegung gegen die autoritäre Politik des damaligen Ministerpräsidenten und heutigen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan aus, nachdem die Polizei immer wieder äußerst brutal gegen die Demonstrierenden vorging. Schließlich wurde die Bewegung blutig niedergeschlagen – elf Menschen starben, über 8.000 weitere wurden verletzt.