YPG-Kommandant Sipan Hemo zu Besuch in Moskau – Teil II
Sipan Hemos Prognose für 2018: „Es wird möglicherweise politische Gespräche im Jahr 2018 geben, aber ich glaube, dass militärische Auseinandersetzungen mehr im Vordergrund stehen werden.“
Sipan Hemos Prognose für 2018: „Es wird möglicherweise politische Gespräche im Jahr 2018 geben, aber ich glaube, dass militärische Auseinandersetzungen mehr im Vordergrund stehen werden.“
In dem zweiten Teil des Interviews mit Sipan Hemo geht er tiefer auf die bisherigen Treffen von Genf bis Sotschi ein und warum auf diesen bisher keine Lösung gefunden werden konnte.
Zu den Drohungen einer Intervention durch die türkische Armee erklärt er: „Wir hatten zu Beginn des Widerstands von Kobanê gesagt, dass dies das Ende des IS sein wird. Wenn die Türkei in Efrîn oder Şehba irgendeinen Teil unseres Bodens besetzen möchte, dann steht nicht nur die Anwesenheit der Türkei in Syrien in Frage, dann wird das Ende der AKP-Regierung kommen. Wir sagen das deutlich. Wir drohen nicht, wir benennen eine Realität.“
Welchen Einfluss haben die Widersprüche zwischen den USA und Russland auf Ihre Kräfte und Ihre Politik?
Die Widersprüche zwischen diesen Kräften beeinträchtigen uns zunächst nicht besonders. Unser Kampf und unsere Haltung sind eindeutig. Auch das Projekt, das wir zur Lösung der Krise und die Zukunft Syriens vorschlagen ist klar. Unser Kampf dafür geht in jeder Hinsicht weiter.
Wir haben mit diesen Kräften bis jetzt einen gemeinsamen, koordinierten Kampf geführt. Aber wir wissen nicht, wie sich die Situation nun verändern wird. Wir sagen dies ganz offen: Die internationalen Kräfte sollen für den Aufbau der Demokratischen Nation und eines demokratischen Syriens zusammenarbeiten. So soll ein Syrien geschaffen werden, das für alle in Syrien sein kann. Bis jetzt gibt es allerdings keine entsprechenden Anzeichen, die in diese Richtung führen.
Wie ja bekannt ist, führt Russland nach Astana nun Treffen in Sotschi hinsichtlich einer Lösung durch. Andererseits macht Amerika ähnliche Treffen in Genf. Nach unserer Meinung soll jede zur Lösung notwendige Diskussion geführt werden, aber bei diesen Diskussionen muss die Ursache des Problems thematisiert werden. Das Grundproblem ist die kurdische Frage und die Mentalität des syrischen Regimes. Wenn es diesbezüglich keine Verständigung, keine Einigung und Änderungen gibt, können sie noch so viele Treffen durchführen, die Ergebnisse werden immer wieder künstliches Flickwerk bleiben, das die Realität in Syrien nicht widerspiegelt.
Wir sagen es allen Kräften ganz offen. Die Lösung für die Syrienkrise ist die auf demokratischer Grundlage aufgebaute Demokratische Nation und das Projekt der Demokratischen Föderation. Doch inwiefern unsere Stimme diese Kräfte erreicht, wird erst die Zukunft zeigen.
Bisher hat es einige Bemühungen für eine Lösung ohne uns gegeben, aber daraus ist kein Ergebnis hervorgegangen. Wir haben vergessen, wie viele Genfer-Treffen es eigentlich gab. Astana ist wieder genauso. Jetzt steht Sotschi auf der Tagesordnung. Aber bis jetzt wurden schon zwei Sotschi-Treffen sabotiert.
Es gab die Entscheidung, das Treffen vor Jahresende durchzuführen. Dann wurde die Entscheidung geändert und es wurde gesagt, die Treffen würden in der Woche nach Neujahr stattfinden. Jetzt geben sie ein Datum, aber ich zweifle daran, dass zu diesem Zeitpunkt in Sotschi ein Treffen stattfinden wird.
Gut, aber sie waren ja in den letzten Tagen in Russland. Es stand in der Presse, dass sie auf Einladung Russlands dorthin gereist seien. Welche Verhandlungen und Treffen haben Sie dort besucht? Haben sie bei diesen Gesprächen auch über die internationale Dialogkonferenz in Sotschi gesprochen?
Natürlich fanden bei dem Besuch Gespräche über Sotschi statt. Der Grund meines Besuches war eine Einladung der Chefs des russischen Geheimdienstes. Es gab eine Neujahrsfeier der Geheimdienstchefs. Außerdem wurde den während des Syrienkrieges wegen Tapferkeit ausgezeichneten Soldat*innen eine Medaille von Putin verliehen. Ich war dazu offiziell eingeladen.
Es nahmen viele hochrangige Verantwortliche teil. Es kamen die Staatschefs ehemaliger Sowjetrepubliken und Staaten aus der Umgebung Russlands, wie auch Vertreter*innen von mit Russland befreundeten Staaten, darunter auch der Vertreter Syriens und viele hohe Offiziere, die Stellvertreter Putins und etliche Geschäftsleute.
Ich wurde ebenfalls zu einer Rede auf die Bühne geladen. Ich habe fünf Minuten auf Kurdisch gesprochen. In dieser Rede habe ich sowohl für diese Zeremonie, als auch den geehrten Soldat*innen gratuliert. Ich habe auf die Freundschaft zwischen dem russischen und dem kurdischen Volk hingewiesen und unsere Hoffnung für eine dauerhafte Lösung der Syrienkrise und unseren Wunsch auf russische Unterstützung dabei zum Ausdruck gebracht.
Natürlich habe ich mich andernorts insbesondere mit dem Verteidigungsministerium, den Geheimdienstverantwortlichen und dem Generalstab zu verschiedenen Gelegenheiten einzeln getroffen.
Aber was ist bei den Gesprächen rausgekommen, welche Versprechungen gab es? Welche Rechtfertigungen gab es hinsichtlich der Erklärung, dass die PYD nicht in Sotschi teilnehmen wird?
Bei den Gesprächen kam heraus, dass es eigentlich kein Problem gibt. Bezüglich der Erklärung, dass die Partei der Demokratischen Einheit (PYD) nicht teilnehmen wird, wurde klargestellt, dass sich die Einladung zu dem Treffen nicht an Parteien, sondern an alle Völker Syriens richte. Es wurde hervorgehoben, dass es eine Einladung an die Demokratische Föderation Nordsyrien geben werde. Die Demokratisch Autonome Selbstverwaltung würde entweder persönlich oder als Volksvertreter*innen eingeladen. Es gäbe in dieser Hinsicht überhaupt kein Problem.
Sie haben gesagt: „Wir wollen für dieses Treffen 155 Namen von Personen der Demokratisch Autonomen Selbstverwaltung.“ Natürlich handelt es sich bei den Personen, welche die Selbstverwaltung zur Verfügung stellt, um Menschen aus allen Völkern Syriens und nicht nur um Kurd*innen.
Auf der russischen Seite gibt es die falsche Bewertung, dass es sich bei uns ausschließlich um Kurd*innen halten würde … Wir erklärten, dass Kurd*innen, Suryoye, Assyrer*innen, Armenier*innen, Turkmen*innen und Vertreter*innen von allen Völkern an diesem Treffen von Seiten der Demokratisch Autonomen Selbstverwaltung teilnehmen werden. Sie meinten, dass dies kein Problem darstelle. Sie sagten: „Es gibt große Bemühungen von Seiten des türkischen Staates, dieses Treffen zu sabotieren. Die türkische Seite erklärt, dass die Bedingung der Nichtteilnahme der Kurden eine Bedingung für ihre Teilnahme sei. Die Kurden nehmen aber zu Recht teil. Für uns sind die Kurden eines der Grundkomponenten Syriens. Wir haben keinerlei Problem mit ihrer Teilnahme.“
Die Versprechen, die sie gemacht haben, stehen auf dieser Grundlage. Aber ich kann natürlich nicht wissen, ob und wie sich das in Zukunft verändern wird. Ich habe das von Anfang an klargestellt. Dass Treffen, das in Sotschi zur Diskussion der Grundprobleme und deren Lösung durchgeführt werden soll, ist nicht sehr realistisch.
Russland hat wohl eine neue Verfassung für Syrien vorbereitet und diese fertig in den Händen. Sie werden alle in Sotschi versammeln und sagen „bestätigt unsere Verfassung“ und so einen noch stärkeren Einfluss auf politischer Ebene ausüben. Sie wollen Sotschi gegenüber Europa und Genf stärken. Dazu müssen alle Parteien an Sotschi teilnehmen. Nach ihrem Projekt werden die syrische Opposition und die türkeiabhängigen Milizen ebenso wie die von anderen Mächten abhängigen Milizen und die Kurd*innen teilnehmen. Sie alle sollen Russlands Verfassung bestätigen. Das wird dann als ein Sieg Russlands verstanden und auch so propagiert werden.
Sie haben von den Bemühungen des türkischen Staates gesprochen, Sotschi zu sabotieren. Im vergangenen Jahr haben sich die Angriffe des türkischen Staates auf Rojava und Nordsyrien ausgeweitet. Wie bewerten Sie die Angriffe, die 2017 stattgefunden haben und den Widerstand Ihrer Kräfte?
Ja, zweifellos gab es hunderte Angriffe des türkischen Staates auf unsere Kräfte. Der grausamste Angriff des türkischen Staates auf unsere Kräfte war der Angriff auf Qereçox. Der türkische Staat war beunruhigt über das Fortdauern der Operation auf Raqqa und die Befreiung von Tabqa. Erdoğan hat diesen Luftangriff auf Qereçox befohlen, um das Leben des IS zu verlängern und unsere Bemühungen in Raqqa zu zerstören. An diesem Tag hatte er das Hauptquartier der YPG auf dem Qereçox mit Kriegsflugzeugen ins Visier genommen. Wir haben bei dem Angriff auf Qereçox viele sehr wertvolle Genoss*innen und Kommandant*innen verloren.
Ich stelle es erneut klar. Das Ziel des türkischen Staates hinter diesem Angriff war es, dass wir von Raqqa ablassen und dass unsere Tabqa-Operation scheitert. In dieser Situation wurde es für uns zu einer Ehrenschuld Raqqa und Tabqa zu befreien.
Im Gedenken an unsere Gefallenen und ihren Kampf haben wir den unseren noch weiter gestärkt und Tabqa und Raqqa befreit. Auf diese Weise ist Erdoğans Plan gescheitert. Er konnte auch nicht Zweitracht und Konflikte schüren, so wie er es wollte. Wir haben mit unseren Vergeltungsaktionen an der Grenze Rache für unsere Gefallenen genommen und auch die Operationen auf Raqqa und Tabqa nicht gestoppt. Im Gegenteil, wir haben sie sogar aktiviert. Sowohl die Hinterhältigkeit Erdoğans, als auch seine Bemühungen das Leben des IS zu verlängern, wurden von den Koalitionskräften wahrgenommen. Dass das US-Kommando gemeinsam mit dem Kommando der YPG auf den Qereçox kam, um die Schäden zu inspizieren, ist ein Beweis dafür. Die Unterstützung durch die Koalitionskräfte sind nach dem Angriff auf Qereçox nicht gestoppt worden, sondern haben sogar noch zugenommen.
Sie haben deutlich wahrgenommen, wie die Türkei uns, während wir den IS bekämpfen, versuchen zu behindern, wie sie versuchen den IS am Leben zu erhalten. Deshalb hat nach dem Qereçox-Angriff die Unterstützung der Koalition für uns Stück für Stück zugenommen. So konnte Erdoğan seine Ziele nicht erreichen. Natürlich lasten die beim Angriff auf Qereçox Gefallenen, schwer auf uns. Aber heute sind Raqqa und Tabqa frei und Dêra Zor wird gerade befreit. Das ist in ihrem Gedenken geschehen.
Ebenso hat der türkische Staat im vergangenen Jahr ständig Angriffe auf Eyn Deqna ausgeführt. Aber unsere Kräfte haben ihm eine direkte Antwort gegeben. Dutzende Leichen von türkeitreuen Milizionären sind in unsere Hände gefallen. In der Mitte des Jahres gab es zwei Besatzungsversuche in Eyn Deqna. Aber sie haben kein Ergebnis erzielt. Danach gab es etliche Großangriffe. Mit Artillerie, mit Aufklärungsflugzeugen und Milizen fanden dieses Jahr insbesondere auf unser Şehba-Gebiet permanent Angriffe statt. Neben den beiden Großangriffen auf Eyn Daqna, waren alle anderen Angriffe niederer Intensität.
Welche Vorbereitungen für einen Widerstand gegen die Besetzungsdrohungen durch das Regime und die Türkei gab es 2017?
Wir haben Maßnahmen gegen eine mögliche Besetzung durch das syrische Regime oder den türkischen Staat ergriffen. Wir haben niemanden angegriffen, außer diese Milizen. Wir haben einen Kampf begonnen, um alle Völker Syriens auf ein Widerstandsniveau zu bringen. Es geht dabei um einen legitimen Kampf. Wenn die Türkei uns angreift, dann wird der Widerstand unserer Bevölkerung sehr stark sein. Unsere Kräfte sind darauf mehr als gut vorbereitet. Ob dieser Angriff kommen wird oder nicht, können nur sie selbst wissen.
Aber wir möchten dies klarstellen. Wir hatten zu Beginn des Widerstands von Kobanê gesagt, dass dies das Ende des IS sein wird. Wenn die Türkei in Efrîn oder Şehba irgendeinen Teil unseres Bodens besetzen möchte, dann steht nicht nur die Anwesenheit der Türkei in Syrien in Frage, dann wird das Ende der AKP-Regierung kommen. Wir sagen das deutlich. Wir drohen nicht, wir benennen eine Realität.
Wir sind seit einem Jahr in einem andauernden Krieg. Die Drohungen, die der türkische Staat bisher gemacht hat, waren leer. Unser Volk soll nicht zweifeln. Wir haben niemanden bedroht oder angegriffen, aber falls wir angegriffen werden, dann werden wir einen beispielhaften Widerstand wie in Kobanê zeigen, das Ende der AKP wird kommen und unsere Bevölkerung wird siegen.
Sie waren das ganze Jahr in der Offensive. Hat das die Ausbildung Ihrer Kräfte behindert? Was gab es für Veränderungen bezüglich der Ausbildung, der Teilnahme und der Stationierung Ihrer Kräfte im Jahr 2017?
Wir haben immer unser Bildungssystem. Wir befinden uns nicht nur seit einem Jahr in einem massiven Krieg, sondern seit sechs Jahren, und wir haben nie unsere Bildung oder unser Bildungssystem vernachlässigt. Aber natürlich gibt es immer wieder Veränderungen. Unsere Kräfte entwickeln sich im Zusammenhang mit dem Niveau der Teilnahme und der wachsenden Kriegserfahrung. In diesem Sinne ist unsere Bildung, wie auch unsere Kräfte selbst, einem permanenten Wandel unterworfen.
Heute sind unsere Kräfte professioneller. Es gibt ernsthafte Anstrengungen den Grundstein für ein professionelles Heer zu legen. Mit der Bildung von Regimentern haben wir das Niveau der Bildung einer Volksarmee erreicht. Außerdem ist das Niveau der Beteiligung der Völker Nordsyriens sehr gut. Die YPG organisiert sich in fast allen Regionen Nordsyriens. Dort wo die QSD sind, dort organisieren wir uns auch als YPG und errichten Stellungen.
Mit welchen Plänen gehen Sie ins Jahr 2018?
Jeder spricht davon, dass der Krieg im Jahr 2018 enden und die politischen Diskussionen in den Vordergrund rücken würde. Das Gegenteil wird geschehen. Die Kämpfe der Konfliktgruppen in Syrien dauern fort. Nach unserer Einschätzung wird der Krieg sich 2018 in Damaskus und Idlib unter dem Deckmantel einer Intervention gegen Jabhat Al-Nusra oder Tahrir Al Sham verschärfen. Es wird möglicherweise politische Gespräche im Jahr 2018 geben, aber ich glaube, dass mehr die militärischen Auseinandersetzungen im Vordergrund stehen werden. Wir bereiten uns auf alle Entwicklungen vor und gehen mit solchen Planungen in das Jahr 2018.
Hier ist der Teil I des Interviews: