Nicht ohne Grund ist das Thema Liebe so bewegend und beschäftigt die Menschheit schon seit jeher. Gleichzeitig bleibt ihre Bedeutung und ihr Inhalt uns doch irgendwie ein Rätsel. Wir treffen heute auf verschiedenste Definitionen von Liebe. Mal heißt es, die Liebe könne uns alle retten. Mal heißt es, Liebe mache „blind". Mal tut sie weh, mal ist sie Heilung. Mal ist sie das große Glück und mal ist sie die reine Herzensqual. Doch was davon kommt der Wahrheit wirklich nah und von welcher Liebe wird bei diesen Definitionen überhaupt gesprochen?
Wenn wir über Liebe sprechen und philosophieren, müssen wir sie im Kontext der gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten unserer Zeit analysieren. In einer Gesellschaft, die von Kapitalismus, Egoismus, Sexismus, Massenmedien und zunehmender (Selbst-)Entfremdung geprägt ist, erscheinen uns die Bedeutung und das Wesen der Liebe immer verschwommener. Wir können sie kaum mehr wirklich fassen, richtig begreifen und erleben. In einem überfordernden Durcheinander aus Anonymität, Großstadt, Konsum, Ausbeutung und Kriegen besteht immer mehr die Gefahr, dass Menschen dem sozialen Leben entfliehen wollen und sich inmitten einer sonst anonymen, gewaltsamen und egoistischen Gesellschaft eine kleine sichere Hütte aus Liebe zu bauen versuchen. Doch wer sich der Liebe auf diese Weise annähert, wird früher oder später enttäuscht.
Die Liebe in der kapitalistischen Gesellschaft, vor allem die romantische Liebe, ist durchdrungen von großen Herausforderungen und Schwierigkeiten. Aber auch die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, Gesellschaft und Individuum sowie zwischen Mensch und Natur müssen neu gedacht werden, um ein freies Leben möglich zu machen. Liebe wird immer mehr als eine persönliche Angelegenheit zwischen zwei Individuen behandelt, anstatt als Bedingung für Freiheit, Solidarität und Gemeinschaftlichkeit in einer Gesellschaft. Wenn in der Mehrheitsgesellschaft von Liebe gesprochen wird, ist meist eine monogame Beziehung zwischen einer Frau und einem Mann gemeint. Dabei sind oft genau diese Beziehungen alles andere als Liebe. Unterschwelliger Sexismus und Gewalt, als Liebe verkleidet, sind Teil der Realität von vielen „Liebesbeziehungen". Dazu reicht ein Blick in die Mainstreammedien und -literatur. Stalking, Belästigung, Geschlechterrollen und Übergriffe werden – oft unbemerkt – romantisiert und idealisiert. So muss Liebe auch im Hinblick auf sexistische Mechanismen analysiert werden, die uns alle der Liebe berauben.
Die Konkurrenz und Isolierung unter Frauen* ist eines der wichtigsten und ältesten Werkzeuge des Patriarchats. Der Kampf gegen Sexismus bedarf eines gebündelten Kampfes gegen die Beschämungs- und Beschuldigungskultur gegenüber Frauen*, die oft durch ihre Konkurrenz untereinander verstärkt wird und einer solidarischen, feministischen Bewegung im Weg steht. Hierbei spielen in den letzten Jahren soziale Medien eine wichtige Rolle. Sie sind eine große Möglichkeit für Frauen*, sich zu vernetzen und global zu solidarisieren. Viele feministische Autor*innen, Journalist*innen, Blogger*innen und Aktivist*innen konnten in den letzten Jahren über soziale Medien die Entwicklung eines neuen feministischen Bewusstseins positiv beeinflussen. Dabei wurden die Diskussionen endlich auch durch queere, anti-koloniale, anti-rassistische und anti-kapitalistische Perspektiven auf Feminismus erweitert und bereichert. Anstatt den übertriebenen Fokus auf äußerliche Schönheit und Konsum zu verstärken, kann das Potenzial in Richtung Empowerment und Solidarität gelenkt werden, damit revolutionäre Liebe entstehen und gedeihen kann.
Doch weitaus mehr ist es der patriarchale Mann, der das lieben neu lernen muss und eine innere Revolution durchlaufen muss. Die gesellschaftlichen Normen, die ihnen auferlegt werden, müssen sie von sich weisen und sich gegen sie auflehnen. Um in einer patriarchalen Welt jemanden wahrhaft lieben und respektieren zu können, egal auf welche Weise, muss der von der patriarchalen Gesellschaft gemachte Mann zerstört werden. Damit ist nicht gemeint, dass Männer sterben sollen, sondern vielmehr, dass gegen die sexistische, hegemoniale Männlichkeit angekämpft wird. Um lieben zu können, muss das Verlangen des Mannes nach Kontrolle und Macht für immer aufgegeben werden. Mit den herrschenden patriarchalen Traditionen muss gebrochen werden. „Liebesbeziehungen", die oft weit entfernt von wahrer Liebe sind, beruhen in vielen Fällen auf Geschlechterrollen, Machtkämpfen und Gewalt jeglicher Art. Die Ehe wird, vor allem von Frauen*, oft als das Ereignis im Leben betrachtet, durch das man Geborgenheit und Liebe erlangt. Dabei ist die Ehe eines der größten Mittel der Unterdrückung von Frauen*, der Gesellschaft und der Jugend. Durch die zunehmende Romantisierung der Ehe ist vielen Menschen der Ursprung dieser Institution und ihr patriarchaler Charakter nicht mehr bekannt. Es ist vielen von uns nicht ausreichend bewusst, dass die Ehe ein Werkzeug des Patriarchats und des Kapitalismus ist, durch das Frauen* dazu gedrängt werden, ihre Rolle als Reproduktionskraft und kostenlose Arbeitskraft zu spielen. So alternativ und demokratisch diese Ehe auch gestaltet sein mag, so bleibt sie doch eine Institution des patriarchalen Systems, und Liebe kann niemals institutionalisiert werden, vor allem nicht in den Staaten der kapitalistischen Moderne. Doch auch abgesehen davon sind Geschlechterrollen und Gewalt in der Ehe und in Partnerschaften immer noch Thema. Die sexistische Sozialisierung führt oft dazu, dass Männer* sich übergriffiges Verhalten erlauben und Frauen* wiederum denken, sie müssten sexualisierte, körperliche und verbale Gewalt „ertragen" und dulden. Und das ist nur ein Problem von Tausenden.
Aber auch wenn es eine unglaublich große und schwierige Aufgabe ist, diese seit 5.000 Jahren tief verwurzelte Mentalität zu bekämpfen, ist es, vor allem wenn die Jugend ihren Beitrag leistet, möglich, alte Gewohnheiten, Verhaltensweisen und Überzeugungen aufzugeben und sein Wesen von Neuem zu erschaffen, das Herz komplett zu revolutionieren. Die Jugend ist, wie es der derzeit inhaftierte Journalist und ehemaliger Aktivist der Black Panther Bewegung Mumia Abu-Jamal beschreibt, der natürliche Träger revolutionärer Energie: „In der Tat sind junge Menschen in ihrem Wesen durchflutet von einem revolutionären Prozess der Transformation. Dann brodelt es in ihrem Körper wie bei einer Revolution, und indem sie sich persönlich verändern, werden sie auch zum Quell von Veränderungen ihrer Umgebung und erfüllen den gesellschaftlichen Wandel mit ihrer Lebenskraft."1 Wenn die Jugend diesen radikalen Wandel vollbringt, wird sie gleichzeitig die ganze Gesellschaft mitreißen und die Geburt einer neuen Gesellschaft und wahrhaft revolutionärer Liebe hervorbringen. Um Liebe zwischen zwei Menschen verwirklichen zu können, ist es nicht nur wichtig, dass jeder eine eigene Veränderung durchmacht. Es muss auch eine gemeinsame Rebellion, ein gemeinsamer Kampf entstehen. Das kann manchmal auch bedeuten, dass man gegeneinander kämpfen muss. Gegeneinander zu kämpfen bedeutet aber keineswegs, dass man einander nicht liebt, sondern dass man durch scharfe Kritik und Selbstkritik gegen den verinnerlichten Sexismus kämpft. Die Zustände, die die Liebe fast unmöglich machen, dürfen nicht akzeptiert werden. Unser letztes Jahr in Raqqa (Rojava) gefallener Genosse Mehmet Aksoy (Fîraz Dag) richtete diese starken Worte an uns alle: "Beugt euch nicht dem Kapitalismus, dem Materialismus! Beugt euch nicht den hässlichen Beziehungen, der Lieblosigkeit und Respektlosigkeit, der Entwürdigung, der Ungleichheit. Beugt euch nicht!" Wer wirklich liebt, muss gegen all diese Mechanismen kämpfen, die der Liebe im Weg stehen. Und diese Mechanismen erst zu entschlüsseln und sich dagegen aufzulehnen ist eine große Aufgabe, die sich uns als Jugend stellt. Die Ideale einer freien Gesellschaft müssen angestrebt und gemeinsam verwirklicht werden, denn alles andere darf nicht akzeptiert werden, wenn wir wirklich lieben.
Ein Zustand, der die industrialisierte Gesellschaft seit mindestens einem Jahrhundert prägt, ist die zunehmende Anonymität der Menschen untereinander. Das zeigen zum Beispiel die faszinierenden Gedichte der literarischen Epoche des Expressionismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa. Das Individuum entfremdete und entfernte sich allmählich nicht nur von sich selbst, sondern auch von seinen Mitmenschen. Dieser damals neue Zustand, vor allem in den Großstädten, erschien den Künstler*innen und Dichter*innen dieser Zeit vielleicht noch bedrohlicher als unserer Generation. Heute ist das anonyme Großstadtleben für viele von uns zur Normalität geworden. Eine Genossin sagte mir vor Kurzem: „In Europa kannst du in deiner Wohnung sterben und es könnten Monate vergehen, ohne dass es jemand überhaupt bemerkt.“ An diesem Satz steckt viel Wahres. Oft nehmen wir die Isolation und das Alleinsein als bequem wahr. Keiner mischt sich in dein Leben ein, du kannst tun und lassen was du willst. Keiner wird etwas von dir fordern. Du kannst sogar in deinem eigenen Dreck versinken, ohne dass es jemanden kümmert. Doch die Sinnlosigkeit und Leere holt einen früher oder später ein. Man verliert den Sinn der eigenen Existenz aus den Augen. Und je mehr man sich von der Gesellschaft, vom sozialen Leben entfernt, umso unglücklicher wird man und umso sinnloser scheint sowohl die eigene Existenz als auch die Existenz der ganzen Welt.
Liebe, verstanden als eine freie, mutige Energie der Solidarität und Wärme, schenkt Bedeutung. Wer das Lieben kennt, wer mit dem Zauber von Liebe in Berührung kommt, sucht nicht mehr nach irgendeinem höheren Sinn im Leben. Denn nicht im Geld, im Gewinn und im Geiz, sondern im Lieben finden wir Leben, Erfüllung und Freiheit. Das ist vielleicht der Grund dafür, warum viele Menschen so viel Hoffnung darauf setzen, eine zweite Person in ihr isoliertes Leben hineinzuziehen. Aber ob man sich allein oder zu zweit isoliert – Isolation bleibt Isolation. Liebe kann in der Isolation auf Dauer sowieso nicht gedeihen. Wer nicht an das kollektive Leben und an eine Gemeinschaft gebunden ist, wird sich irgendwann in einer riesigen Enttäuschung wiederfinden. Ähnliches können wir auch in der Beziehung zwischen Eltern und ihrem Kind beobachten. Wenn Eltern ihrem Kind gegenüber besitzergreifend sind, das Kind fast schon an sich reißen und von der Gesellschaft fernhalten, ist es sehr wahrscheinlich, dass es später zum einen Ängste und Distanz der Gesellschaft gegenüber entwickelt und gleichzeitig auch die eigene Autonomie des Kindes sich nicht ausprägen kann. Ein Kind, das in einem liebevollen und sozialen Umfeld aufwächst, lernt dagegen die Werte von Liebe und Kollektivität kennen.
Wenn sich Menschen lieben, dürfen sie einander also nicht als Zuflucht vor der Einsamkeit betrachten. Sie dürfen einander nicht konsumieren. Konsum ist keine Liebe. Wir sind an das Konsumieren gewöhnt, ob wir das wahrhaben wollen oder nicht. Und weil wir im Kapitalismus darauf trainiert werden, immer alles zu berechnen, sind wir auch in der Liebe und in Freundschaften kalkulierend und berechnend. Wenn uns ein Mensch enttäuscht oder verärgert hat, „nicht unseren Vorstellungen entspricht", nehmen wir diesen Menschen als „Verschwendung" wahr, wir ärgern uns darüber, Liebe, Zeit und Vertrauen „investiert" zu haben, als hätte unsere Liebe einen Tauschwert oder als wäre sie begrenzt. Liebe bedeutet aber nicht, sich eine Puppe zu suchen, die man besitzen und nach eigenem Belieben schminken und ankleiden, oder auch einfach wegwerfen kann. Liebe bedeutet Kampf. Und das ist nicht nur ein Kampf gegen etwas, sondern in erster Linie ein Kampf für etwas. Die Liebe muss kämpfen, um sich selbst zu erfüllen. Nur wer für Liebe kämpft, ist der Liebe würdig. Und dies gilt nicht nur für romantische Liebesbeziehungen, sondern für alle Formen von Liebe und Zwischenmenschlichkeit. Oft fliehen wir, wenn uns etwas nicht passt. Die Anonymität und die Möglichkeit der Selbstisolierung geben uns zusätzlich dazu die Bequemlichkeit, uns einfach zurückzuziehen und uns unseren Problemen nicht zu stellen. Dabei halten wir oft besonders viel von uns und wollen uns deshalb nicht in die Gefahr begeben, von anderen kritisiert zu werden. Wir könnten uns nämlich auch einfach wieder in unsere einsame, sichere Höhle verkriechen. Ängste dieser Art sind es, die uns oft von wahrer, inniger Liebe abhalten.
Mit der Liebe verhält es sich ähnlich wie mit einer Revolution. Beides unterliegt oft großen Missverständnissen. Genauso wie eine Revolution niemals enden darf, endet auch Liebe nicht an einem bestimmten Punkt. Viele glauben, dass eine Revolution ein Ereignis sei, dabei ist Revolution vielmehr ein permanenter Prozess. Das lehrt uns sowohl die Geschichte als auch ein Blick auf gegenwärtige revolutionäre Bewegungen. Genauso ist es mit Liebe. Liebe ist kein Ereignis. Liebe bedeutet nicht, im Falle der romantischen Liebe zum Beispiel, sich einmal zu verlieben und sich danach auf diesem Ereignis auszuruhen. Liebe ist nichts statisches. Sie beinhaltet Aktivität, Liebe ist fließende Energie. Liebe bedeutet, sich ständig neuen Situationen und Herausforderungen stellen zu können, denn die Liebe selbst ist die Kraft, die dafür benötigt wird. Wahrhaft zu lieben heißt, sich immer wieder füreinander einzusetzen, einander zu respektieren, mutig und ehrlich zu sein und die Liebe zueinander in die ganze Welt hinauszutragen, damit die Liebe nicht zwischen zwei Menschen bleibt, sondern die ganze Welt die Kraft dieser Liebe mit spürt. Der Philosoph Erich Fromm drückt es sehr treffend aus, wenn er sagt: „Wenn ich einen Menschen wahrhaft liebe, so liebe ich alle Menschen, so liebe ich die Welt, so liebe ich das Leben.“2
Dies ist noch lange nicht alles, was sich zum Thema Liebe sagen lässt. Wir müssen aber vor allem verstehen, dass Lieben ein starkes Bewusstsein, einen großen Kampfgeist und den Willen erfordert, sich zu verändern und die Gesellschaft zu transformieren. Denn in einer Gesellschaft, in der unsere Persönlichkeiten durchdrungen sind von Egoismus, Konkurrenz und Angst, kann keine Liebe gedeihen. Wer für Liebe kämpft, kennt keinen Egoismus und keine Ängste mehr und erlangt die nötige Stärke, um einer freien, sozialistischen Gesellschaft den Weg zu ebnen. Liebe ist eine stärkere Kraft als Wut, Angst und Hass. Etwas zu erschaffen ist vielleicht schwieriger, aber viel stärker, als etwas zu zerstören. Und das ist vielleicht auch eines der schönsten Dinge, die wir von der kurdischen Bewegung lernen können. Ein Slogan der kurdischen Freiheitsbewegung lautet: „Wenn du leben willst, dann lebe in Freiheit" – genauso können wir als Frauen*, Jugendliche, Philosoph*innen, Künstler*innen, Kämpfer*innen und Revolutionär*innen, die die Geburt einer neuen Gesellschaft einleiten werden, sagen: Wenn du lieben willst, dann liebe in Freiheit!
Fußnoten:
1Mumia Abu Jamal: Hitze der Veränderung. (Kolumne für die „junge Welt", Ausgabe vom 24.07.2017)
2Erich Fromm in „Die Kunst des Liebens" (1956).