Die Türen öffnen sich. Noch bevor die Gesichter erscheinen, ist die aufgestaute Energie zu fühlen. Der Shutdown ist vorbei. Ein Damm ist gebrochen. Es ergießt sich ein Schwall an Zorn, Frustrationen, Träumen, Hoffnungen, Ängsten. Es ist, als kriegten wir [1] keine Luft.
Wir waren alle im Shutdown. Physisch von der Außenwelt getrennt haben wir das Geschehen zu verstehen versucht. Ein merkwürdiges Virus hat unsere Leben verändert, aber woher kam es? Es tauchte zuerst in Wuhan, China, auf, aber je mehr wir lesen, desto mehr merken wir, dass es von irgendwo hätte kommen können. Seit Jahren haben Expert*innen gewarnt, dass es wahrscheinlich zu einer Pandemie kommen würde, obgleich sie nicht sagen konnten, wie schnell sich diese verbreiten würde. Ihr besonderer Ursprungsort ist nicht entscheidend, vielmehr entstand sie durch die Zerstörung unseres Verhältnisses mit der natürlichen Umwelt. Durch die Industrialisierung der Landwirtschaft, die Zerstörung der bäuerlichen Lebensweise auf der ganzen Welt, das Wachstum der Städte, die Zerstörung des Lebensraums von Wildtieren, die Kommerzialisierung dieser Tiere zu Profitzwecken. Und die Expert*innen sagen uns, dass es wahrscheinlich zu weiteren Pandemien kommt, sofern wir unser Verhältnis zu anderen Formen des Lebens nicht radikal ändern. Es ist eine Warnung: schafft den Kapitalismus ab oder bewegt euch weiterhin auf der Straße in Richtung Aussterben. Den Kapitalismus abschaffen: wirklich eine Fantasie. Und in uns wachsen die Angst und der Zorn und vielleicht auch die Hoffnung, dass es doch einen Weg geben könnte, dies zu tun.
Und mit fortschreitendem Shutdown verlagert sich unsere Aufmerksamkeit, weg von der Krankheit, hin zu den wirtschaftlichen Folgen, die uns ausgemalt werden. Wir erleben die schlimmste Wirtschaftskrise seit mindestens den 1930ern, die schlimmste Krise Großbritanniens seit 300 Jahren, so heißt es. Über einhundert Millionen Menschen werden in extreme Armut fallen, sagt uns die Weltbank.[2] Ein weiteres verlorenes Jahrzehnt für Lateinamerika. Millionen und Abermillionen Erwerbsloser auf der ganzen Welt. Menschen, die hungern, Menschen, die betteln, steigende Kriminalität, zunehmende Gewalt, enttäuschte Hoffnungen, geplatzte Träume. Es wird keine schnelle Erholung geben, jegliche Erholung ist voraussichtlich zerbrechlich und schwach. Und wir denken: all dies nur, weil wir ein paar Monate zu Hause bleiben mussten? Und wir wissen, dass das nicht sein kann. Natürlich werden wir ein wenig ärmer sein, wenn die Menschen einige Monate lang nicht arbeiten, aber Millionen und Abermillionen erwerbslos, Menschen, die vor Hunger sterben? Sicher nicht. Eine mehrmonatige Unterbrechung kann nicht zu solchen Auswirkungen führen. Ganz im Gegenteil, wir sollten erholt und voller Tatendrang zurückkehren, um all die Dinge zu tun, die getan werden müssen.
Und wir denken weiter und stellen fest, dass die Wirtschaftskrise selbstverständlich nicht Ergebnis des Virus ist, auch wenn diese sehr wohl dadurch ausgelöst worden sein kann. Genau so, wie die Pandemie vorhergesagt wurde, wurde noch deutlicher die Wirtschaftskrise vorhergesagt. Seit dreißig Jahren, oder noch länger, hat die kapitalistische Ökonomie im wahrsten Sinne des Wortes von geliehenem Geld gelebt: ihre Ausweitung basierte auf Kredit. Ein vor dem Einsturz stehendes Kartenhaus. Im Jahr 2008 stürzte es mit furchtbarsten Auswirkungen fast ein, aber eine erneute und erweiterte Ausweitung des Kredits stützte es einmal mehr ab. Die Wirtschaftskommentator*innen wussten, dass es nicht von Dauer sein konnte. „Gott wies Noah das Zeichen des Regenbogens, nach der Flut das Feuer“: die Finanzkrise von 2008 war die Flut, aber beim nächsten Mal, das nicht lange auf sich warten lassen würde, würde das Feuer kommen.[3] Wir durchleben es gerade: das Feuer der kapitalistischen Krise. So viel Elend, Hunger, enttäuschte Hoffnungen, nicht aufgrund eines Virus, sondern um die Profitabilität des Kapitals wiederherzustellen. Und was wäre, wenn wir einfach das auf Profit basierende System abschafften? Was wäre, wenn wir mit unserer frischen Tatkraft einfach rausgingen und das täten, was es zu tun gilt, ohne uns um den Profit zu sorgen: die Straßen reinigen, Krankenhäuser bauen, Fahrräder montieren, Bücher schreiben, Gemüse pflanzen, Musik machen, was auch immer. Keine Erwerbslosigkeit, kein Hunger, keine geplatzten Träume. Und die Kapitalist*innen? Entweder an die nächste Straßenlaterne hängen (eine immer bestehende Versuchung) oder sie einfach vergessen. Es ist sicher besser, sie einfach zu vergessen. Eine weitere Fantasie, aber mehr als eine Fantasie: eine dringliche Notwendigkeit. Und unsere Ängste und unser Zorn und unsere Hoffnungen wachsen in uns.[4]
Und es gibt noch mehr, noch sehr viel mehr, um unseren Zorn im Shutdown anzustacheln. Die Pandemie hat den Kapitalismus in riesigem Ausmaß demaskiert. Wie selten zuvor wurde er bloßgestellt. Auf so viele Arten und Weisen. Einmal ist da der riesige Unterschied in der Erfahrung mit dem Shutdown, abhängig von dem dir zur Verfügung stehenden Raum, ob du einen Garten hast, ob du ein Ferienhaus hast, in das du dich zurückziehen kannst. In enger Beziehung dazu steht dann der riesige Unterschied der Auswirkungen der Pandemie auf Reich und Arm, wie sich mit dem Fortschreiten des Virus gezeigt hat. Dazu gehört auch der große Unterschied der Infektions- und Sterberate von Weißen und Schwarzen. Und die entsetzlichen Mängel in der Krankenversorgung nach über dreißig Jahren Unterfinanzierung. Und die furchtbare Inkompetenz so vieler Staaten. Und die eklatante Ausweitung der Macht von Überwachungs-, Polizei- und Militärbehörden in fast allen Ländern. Und die Diskriminierung im Bildungsbereich zwischen denen, die Zugang zum Internet haben, und denen, die keinen haben. Und die Gefahr furchtbarer Gewalt, der so viele Frauen* ausgesetzt sind. All dies und noch viel mehr, während gleichzeitig die Eigentümer*innen von Amazon und Zoom und so viele andere Technikunternehmen beeindruckende Profite einfahren und der Aktienmarkt, angetrieben vom Vorgehen der Zentralbanken, den schamlosen Transfer des Reichtums von Arm zu Reich vorantreibt. Und unser Zorn wächst und unsere Ängste und unsere Verzweiflung und unsere Entschlossenheit, dass dies nicht so sein muss, dass wir DIESEN ALBTRAUM NICHT WAHR WERDEN LASSEN DÜRFEN.
Und dann öffneten sich die Türen und der Damm brach. Unser Zorn und unsere Hoffnungen brachen auf die Straßen hervor. Wir hören George Floyd, wir hören seine letzten Worte, „Ich kriege keine Luft“. Die Worte drehen sich in unserem Kopf immer weiter. Wir haben nicht das Knie eines mordenden Polizisten in unserem Nacken, aber auch wir kriegen keine Luft. Wir kriegen keine Luft, denn der Kapitalismus tötet uns. Wir fühlen die Gewalt aus uns hervorbrechen.[5] Aber das ist nicht unser Weg, es ist ihrer. Dennoch unsere Zorn-Hoffnungen, unsere Hoffnungen-Wut müssen Luft kriegen, müssen Luft kriegen. Und sie kriegen sie, auf den riesigen Demonstrationen gegen Polizeibrutalität und Rassismus auf der ganzen Welt, indem das Denkmal des Sklavenhändlers Edward Colston in Bristol in den Fluss geschmissen wird, indem in Seattle die Autonome Zone des Capital Hill errichtet wird, indem das Polizeirevier in Minneapolis niederbrennt, indem so viele Fäuste gen Himmel gereckt werden.
Und der Schwall an Zorn-Hoffnungen-Ängsten-Hunger-Träumen-Frustrationen bewegt sich kaskadierend fort, von einem Zorn zum anderen, jeden Zorn lebend, jeden Zorn respektierend, dabei überfließend auf den nächsten. Der in uns brennende Zorn richtet sich nicht nur gegen Polizeibrutalität, nicht nur gegen Rassismus, nicht nur gegen die Sklaverei, die die Grundlage für den Kapitalismus gebildet hatte, sondern auch gegen die Gewalt gegen Frauen* und alle Formen des Sexismus, und lässt so die riesigen Märsche des 8M6 singend wieder anschwellen. Die Chilen*innen kommen wieder raus auf die Straße und setzen ihre Revolution fort. Und die Menschen in Kurdistan drängen die Staaten zurück, die die Vorstellung einer Gesellschaft ohne Staat nicht akzeptieren können. Und die Menschen in Hong Kong inspirieren alle Chines*innen zur Ablehnung der Verspottung des Kommunismus: kein Kommunismus, rufen sie, lasst uns kommunisieren. Der Kommunismus ist kein Nomen, das oktroyiert werden soll, sondern ein Verb, das zu erschaffen und wieder zu erschaffen ist. Und die Zapatist*innen erschaffen die Welt vieler Welten. Und so wie die landlosen Bauern und Landarbeiter ihre Slums verlassen und auf das Land zurückgehen und mit der Heilung der Beziehung zu anderen Formen des Lebens beginnen, so machen sich die Stadtbewohner*innen daran, urbane Saaten zu kultivieren, die Imker*innen Honig ernten zu lassen und einen städtischen Lebensraum zu schaffen, der allen ein lebenswertes Leben ermöglicht, dabei die Trennung zwischen Stadt und Land niederreißend. Und die Fledermäuse und Wildtiere gehen zurück in ihre Lebensräume. Und die Kapitalist*innen krabbeln in ihre Lebensräume zurück, unter die Treppen. Und die Arbeit, kapitalistische Arbeit, die schreckliche Maschine, die Reichtum und Armut produziert und unsere Leben zerstört, gelangt an ihr Ende und wir beginnen, das zu tun, was wir wollen, wir beginnen, eine andere Welt zu erschaffen, begründet auf der gegenseitigen Anerkennung unserer Würden. Und dann wird dies kein verlorenes Jahrzehnt und es gibt keine Erwerbslosen und es gibt nicht Hunderte Millionen Menschen, die in die Armut gedrängt werden und niemand wird hungern. Und dann, ja, dann kriegen wir Luft.
[1] „Wir“ ist immer eine Frage. Wir wissen einfach nicht, in welchem Zustand die Menschen den Shutdown verlassen. Das Ausmaß der „Black Lives Matter“-Bewegung in der ganzen Welt hat uns überrascht. Die Aufstände in Stuttgart am 21. Juni 2020 haben uns überrascht. Mehr denn je ist „wir“ eine Frage, eine Offenheit, sich überraschen zu lassen, in einer Welt, die wir nicht kennen.
[2] World Bank. 2020. Global Economic Prospects, June 2020. Washington, DC: World Bank. © World Bank. https://openknowledge.worldbank.org/handle/10986/33748 License: CC BY 3.0 IGO.
[3] Siehe das letzte Kapitel von Martin Wolfs The Shifts and the Shocks, Penguin Press, New York, 2014: „Conclusion: Fire Next Time“.
[4] Ich schlage nicht vor, Kapitalisten an Laternenpfählen aufzuhängen. Aber es gibt einen riesigen und besorgniserregenden Zorn in der Welt, der nicht überraschend ist. Unsere Gedanken und unsere Fantasien müssen diesen Zorn als unseren reklamieren, unseren gerechtfertigten Zorn gegen das System, das uns zerstört, und gegen jene, die von dieser Zerstörung profitieren und sie verstärken.
[5] Siehe Linton Kwesi Johnson, „Time Come“: „now yu si fire burning in mi eye/ smell badness pan mi breat/ feel vialence, vialence, /burstin outta mi;/ look out!“, in: Dread Beat and Blood, Bogle-L’Ouverture Publications, London, 1975
Übersetzung: Lars Stubbe
John Holloway ist Professor der Soziologie und einer der einflussreichsten neomarxistischen Theoretiker der Gegenwart. Seine Theorien sind beeinfulsst durch die Bewegung der Zapatista und zeichnen sich durch einen staats- und machtkritischen Schwerpunkt aus, der in den Zitaten: „preguntando caminamos” (fragend gehen wir voran) und „Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen” seinen zugespitzten Ausdruck findet. Bei Eine Kaskade des Zorns - Meine COVID-19-Fantasie handelt es sich um eine Vorveröffentlichung, die in Heft 28 der geschichts- und sozialwissenschaftlichen Zeitschrift Sozial.Geschichte Online erscheinen wird.