Guerillatagebücher: Çiçek Kiçî

„Heval, ich bin kein Stammesführer, kein Ministerpräsident und kein Staatschef. Ich bin ein Mensch wie ihr und ich bin euer Weggefährte. Benimm dich mir gegenüber auch so.“

Wir veröffentlichen als Serie Ausschnitte aus den Tagebüchern gefallener Guerillakämpferinnen und Guerillakämpfer. Darin geht es um die erste Bekanntschaft mit der kurdischen Befreiungsbewegung, um die Verbundenheit zu einem bestimmten Gebiet oder um Begegnungen mit dem PKK-Gründer Abdullah Öcalan. Im ersten Teil der von Mahir Yılmazkaya zusammengestellten Serie präsentieren wir einen Ausschnitt aus dem Tagebuch von Çiçek Kiçî.

Çiçek Kiçî, die auch Çiçek Botan genannt wurde und mit Geburtsnamen Guhar Çağırga hieß, kam am 10. Oktober 2011 zusammen mit sechs weiteren Freund*innen bei einem türkischen Luftangriff ums Leben. Sie wurde 1975 im Weiler Kavirkir (Fıstıklı) in der nordkurdischen Provinz Şirnex (Şırnak) geboren. Der Weiler lag nahe des Dorfes Cinibre (Yeşilyurt) im Landkreis Cizîr. Çiçeks Familie gehörte zu einem Nomadenstamm. Sie wuchs mit den Kriegsgeschichten auf, die die Alten an langen Abenden im Zelt erzählten.

Als erste Frau ihres Stammes bei der PKK

Im Alter von elf Jahren erlebte Çiçek ihre erste Festnahme und Folter. Aufgrund der Aussage eines Überläufers namens Mustafa Çimen überfielen Soldaten ihr Dorf und nahmen mehrere Menschen fest. Neben der staatlichen Gewalt musste Çiçek auch die Erfahrung gesellschaftlicher Gewalt machen. Als junges Mädchen wurde sie mit einem Mann verheiratet, weil die Familien es bereits in der Wiege so beschlossen hatten. 1989 schloss sie sich als erste Frau ihres Stammes in Sêrt (Siirt) der PKK an und hielt sich vor allem in Botan auf. 1993 forderte Öcalan eine Gruppe aus Botan für die Weiterbildung an der Parteiakademie an. Çiçek schreibt in ihrem Tagebuch:

Ich wünschte mir so sehr, dass ich für diese Gruppe ausgesucht werde, aber ich konnte es nicht zur Sprache bringen. Bei der PKK schlägt man sich nicht für eine gute Sache vor. Trotzdem konnte ich mich nur schwer zurückhalten. Wie für die anderen auch war es mein größter Traum, den Vorsitzenden zu sehen. Als die Namen bekannt gegeben wurden, die zur Akademie gehen sollten, schlug mein Herz wie verrückt. Und dann hörte ich meinen Namen, die ganze Welt gehörte plötzlich mir!

Nach einer Weile brachen wir nach Syrien auf, wo wir abgeholt wurden. Einige Tage später hieß es, dass der Vorsitzende gekommen sei. Ich hatte mir nicht ausmalen können, dass es so schnell gehen würde, ihn zu sehen. Alle waren sehr aufgeregt. Es kam mir vor wie ein Traum. Als ich zur Tür blickte, stand der Vorsitzende Apo plötzlich da und begann der Reihe nach die Freundinnen und Freunde zu begrüßen. Ich lief an allen vorbei und auf den Vorsitzenden zu. Alle sahen mich überrascht an. Ich umarmte den Vorsitzenden fest. Er erwiderte meine Umarmung und sagte lächelnd: „Schon gut, die Aufregung ist jetzt vorbei, du bist ja hier.“ Dann begrüßte er alle anderen mit einer Umarmung.

„Heval, du gehst auf die kurdische Schule“

Es war Essenszeit, der Tisch war gedeckt. Alle warteten auf den Vorsitzenden. Ich fragte eine Freundin, wo sein Sitzplatz war. Sie zeigte mir den Platz und ich setzte mich sofort auf den Stuhl daneben. Der Vorsitzende kam und wir begannen zu essen. Er erklärte, dass es zwei Schulen gebe: „Eine ist kurdisch, die andere türkisch. Alle werden dementsprechend eingeteilt.“ Dann wandte er sich mir zu und sagte: „Heval, geh du auf die kurdische Schule.“

Wir waren sehr viele an der Schule. Einige kamen aus Russland, andere aus dem Norden und aus dem Süden. Wir waren eine buntgemischte Gruppe. Einige waren auch aus Europa gekommen. Wir waren zu fünft oder sechst aus dem Land gekommen. Nach zwei Tagen kam der Vorsitzende wieder. Dieses Mal war ich viel ruhiger als beim ersten Mal und wartete, bis ich an der Reihe war.

Er sagte zu mir: „Du bist ruhiger geworden.“ Ich antwortete mit „Ja“, aber eigentlich war ich immer noch sehr aufgeregt. Vielleicht ist es nicht die richtige Beschreibung, aber ich hatte so ein Gefühl, wie man es vielleicht als kleines Kind seinen Eltern gegenüber empfindet. Wahrscheinlich geht es allen Freundinnen und Freunden so, die an die Akademie kommen. Alle haben das Gefühl, dass der Vorsitzende sich ganz besonders um einen selbst kümmert und einem großen Wert beimisst. Aber so ist es gar nicht. Mein Gefühl war Teil dessen, was die Realität des Vorsitzenden ausmacht. Er geht mit allen Menschen sehr respektvoll um und misst ihnen Wert bei.

„Bist du diese Çiçek?“

Später wurde Tee gebracht. Der Vorsitzende redete mit allen und fragte, wer sie sind, wo sie herkommen und wie sie an die Akademie gekommen sind. Ich bemühte mich um eine sehr gewählte Ausdrucksweise. Beim Essen hatte ich mich vor Aufregung bekleckert, was mir sehr peinlich war. Als der Vorsitzende zu mir kam, hielt ich mich sehr aufrecht. Er fragte mich, woher ich komme und wie ich mich der Partei angeschlossen hätte. Als ich ihm das Datum meines Beitritts nannte, war er überrascht und fragte, ob ich rekrutiert worden sei. Ich verneinte und er sagte: „Du bist noch sehr jung, wie hast du dich so früh angeschlossen?“ Ich erklärte, dass die älteren Freunde zu uns gekommen wären und mich sehr beeindruckt hätten. Außerdem sei meine Familie patriotisch.

Natürlich war in den Berichten aus Botan mein Name erwähnt und ich für die Akademie vorgeschlagen worden. Das wusste ich jedoch nicht, sondern erfuhr es erst vom Vorsitzenden: „In einigen Berichten kam dein Name vor, es wurden Vorschläge gemacht, bist du diese Çiçek?“ Ich war verblüfft und wusste nicht, was ich sagen soll. Ein anderer Freund aus unserer Gruppe antwortete für mich und sagte: „Ja, sie ist die Freundin, die vorgeschlagen wurde.“ Daraufhin sah der Vorsitzende mich an und fragte: „Welche Besonderheiten hast du denn, dass die Freunde dich für die Akademie vorgeschlagen haben?“ Ich konnte bloß antworten: „Das weiß ich nicht.“ Der Vorsitzende lachte und sagte: „Gut, du wirst viel lernen. Wenn ein Mensch es vermag, ‚weiß ich nicht‘ zu sagen, kann er viel lernen.“

Wie ein ganz normaler Freund

Eine der Besonderheiten des Vorsitzenden ist, dass die Menschen sich an seiner Seite wohlfühlen. Man bekommt das Gefühl, dass man schon jahrelang mit ihm befreundet ist. Im Gespräch mit ihm sagte ich frei heraus, was mir gerade durch den Kopf ging. Er fragte mich, wie oft ich an Gefechten teilgenommen hätte, ob ich verwundet worden sei und ob andere an meiner Seite gefallen seien. Dabei entstand eine entspannte und natürliche Atmosphäre, als ob es sich um eine ganz normale Unterhaltung mit einem Freund gehandelt hätte.

Er fragte auch einzeln nach allen Freundinnen und Freunden, die in Botan waren. Wenn ich jemanden beschrieb, den er lange nicht gesehen hatte, wusste er schnell, wen ich meinte. Er wollte in Erfahrung bringen, wie die Lage der Einzelnen gerade war und was sie uns über die Partei beigebracht hatten. Mir fiel auf, dass er offenbar niemanden vergaß, auch wenn er ihn nur ein einziges Mal gesehen hatte.

Dann sprach er über unsere Weiterbildung und darüber, wie wir uns daran beteiligen und uns einbringen sollten. „Alle wollen zu mir an die Akademie kommen, aber niemand weiß von meinen beschränkten Möglichkeiten hier. Ich bin nicht in meinem Land, ich bin in einem fremden Land.“

Damit hatte er Recht. Mir war das vorher nicht bewusst gewesen. Wir waren diejenigen, die alle Möglichkeiten hatten und in ihrem eigenen Land waren. Der Vorsitzende musste in einem anderen Land seine revolutionäre Arbeit durchführen und unter begrenzten Voraussetzungen Großes bewirken. Auf der einen Seite gab es Druck vom türkischen Staat, auf der anderen von Syrien. Trotzdem unterrichtete der Vorsitzende Tausende Menschen und arbeitete Tag und Nacht für die Revolution.

Nichtwissen ist keine Schande

Als der Unterricht begann, erklärte der Vorsitzende, dass er dazu kommen werde, wann immer er die Zeit finde. Wichtig sei jedoch vor allem unsere eigene Beteiligung. Ein großer Mensch bilde sich selbst weiter und sei sich seines eigenen Nichtwissens bewusst, sagte er. Dann fragte er mich, ob ich zur Schule gegangen sei. Ich verneinte und dachte, dass er mich gleich fragen würde, warum meine Eltern mich nicht zur Schule geschickt hätten. Es kam jedoch anders. Er sagte: „Das ist nicht wichtig. Wer zur Schule geht, wird viel mehr durch das System manipuliert. Vielleicht habt ihr das System nicht ganz so stark verinnerlicht, aber ihr müsst euch sehr anstrengen, um jetzt etwas zu lernen. Es ist keine Schande, etwas nicht zu wissen. Eine Schande ist es, nicht zu lernen, sich nicht weiterzuentwickeln und die bestehenden Möglichkeiten nicht zu nutzen.“ Diese Worte gaben mir Selbstvertrauen und ich dachte mir, dass es also keine Schande ist, nicht auf die Schulen des Systems gegangen zu sein.

Eine Weile später wurden wir damit beauftragt, für die Sicherheit des Vorsitzenden zu sorgen. Dieser Auftrag galt insbesondere denjenigen, die Erfahrung hatten, weil sie aus dem Land gekommen waren. Trotzdem war ich völlig überrascht und dachte, wie soll ich den Vorsitzenden beschützen, dafür reicht meine Kraft nicht aus. Rein technisch gesehen, war es natürlich einfach. Du nimmst eine Waffe in die Hand und schiebst Wache. Aber so war es eben nicht. Es ging um den Vorsitzenden, also um die Existenz und die Zukunft eines Volkes. Für diese Sicherheit zu sorgen, machte mir Angst, oder es machte mir zumindest Sorgen. Ich sagte zu dem Freund, der mit uns darüber redete: „Heval, für mich ist das noch sehr früh. Ich will lieber noch ein bisschen länger hier sein und den Vorsitzenden besser kennenlernen, danach kann ich anfangen.“ Der Freund lachte und sagte: „Nein, Heval, es ist nicht zu früh. Alle, die neu sind, sagen das gleiche. Mach dir keine Sorgen, du lernst es mit der Zeit und gewöhnst dich daran.“

Was habe ich falsch gemacht?

So kam ich in die Sicherungsgruppe des Vorsitzenden. Eine Woche später kam er. Es waren Menschen aus der Bevölkerung gekommen, mit denen er eine Versammlung abhalten wollte. Abends blieb er. Morgens um fünf Uhr hatte ich Wachdienst. Als der Vorsitzende aufwachte und die Treppe hinunter kam, nahm ich sofort militärische Haltung an. Er ging an mir vorbei und warf mir einen merkwürdigen Blick zu. Ich sagte: „Rojbaş, Vorsitzender.“ Er grüßte zurück, aber dabei ließ er mich spüren, dass ich etwas falsch gemacht hatte. Als er zurückkam, nahm ich wieder Haltung an. Wahrscheinlich sagte er nichts, weil ich neu war. Er wartete darauf, dass ich selbst darauf kam. Einige Zeit später geschah dasselbe. Ich hatte Wache und nahm Haltung an, als er vorbeiging. Da kam er auf mich zu, fasste mich am Ohr und führte mich zur Tür der Schule. Ich war noch sehr jung und kindlich, daher hatte ich die Ideologie des Vorsitzenden noch gar nicht wirklich begriffen. Ich musste lachen, als er mich so zur Schule führte. Ich wusste, dass er mir etwas sagen wollte, aber ich wusste nicht, was es war. Dann ließ er mein Ohr los und sagte: „Heval, ich bin kein Stammesführer, kein Ministerpräsident und kein Staatschef. Ich bin ein Mensch wie ihr und ich bin euer Weggefährte. Benimm dich mir gegenüber auch so.“

Auf diese Weise brachte er uns seine Ideologie bei. Wenn er eine Schwäche oder einen Fehler sah, ging er darauf ein. Vermutlich haben diejenigen unter uns, die selbst an der Akademie gewesen sind und die Realität des Vorsitzenden dort kennenlernen konnten, das größte Glück der Welt.