Die Revolution von Rojava vom 19. Juli 2012 hat eine globale Bedeutung erreicht. Jeder Tag der letzten fünf Jahre in diesem kleinsten Teil Kurdistans hat wichtige Entwicklungen mit sich gebracht. Die Banden des Islamischen Staates (IS), das Kräftegleichgewicht im syrischen Bürgerkrieg, die Pläne der globalen wie auch regionalen Mächte und deren Aktivitäten in der Region haben die Revolution von Rojava und Syrien auf die Tagesordnung der Weltpolitik gebracht. Angesichts dieser Entwicklungen haben die kurdenfeindliche Politik des türkischen Staates und seine Einmischung in die Entwicklungen in Syrien und der Region eine noch größere Bedeutung bekommen.
Warum begann die Türkei mit der Invasion von Efrîn?
In einer politischen Konjunktur, in der der syrische Bürgerkrieg und das dortige Chaos politisch lösbar erschienen, hat die türkische Invasion von Efrîn eine besondere Bedeutung. Ich war in den ersten Tagen des Angriffes des türkischen Staates gegen Efrîn in den Medya-Verteidigungsgebieten. Das heißt, ich war mit der Guerilla in den Bergen zusammen. Ich habe insbesondere mit der Führung von KCK, PKK, HPG, PAJK, KJK und YJA Star Reportagen zur Bewertung der historischen Entwicklungen und der politischen Phase geführt. Mit Beginn der Angriffe des türkischen Staates auf Efrîn bin ich nach Südkurdistan und von dort nach Rojava bis nach Efrîn gereist. Ich habe dort viel Wichtiges erfahren, von theoretischen Erklärungen über die diplomatisch-politischen und militärischen Entwicklungen bis hin zu Beobachtungen über die gesellschaftliche Realität und in ihre Entwicklung.
Die kurdische Freiheitsbewegung hat die zugespitzte Lage im Jahr 2017 erfolgreich hinter sich gebracht und das Jahr 2018 sehr gut vorbereitet begonnen. Das zeigen die Ereignisse selbst. Ende 2017 wurden die Ergebnisse einer Sitzung des PKK-Parteirats bekanntgegeben und erklärt, wie man das Jahr 2018 beginnen wolle. Der Plan der höchsten Verantwortlichen des türkischen Staates, die PKK zu vernichten und selbst ihren Namen auszulöschen, ist gescheitert. Die PKK hat in allen Teilen Kurdistans effektiv den Entwicklungen eine Richtung weisen können. Der türkische Staat war auch in Bakur (Nordkurdistan) erfolglos gegenüber der Guerilla, und wie es die PKK schon zuvor festgestellt hatte, hat sie auch aufgrund der Entwicklungen in Südkurdistan an Initiative gewonnen. In Rojhilat (Ostkurdistan) hat sie gemeinsam mit den Völkern des Irans gut vorbereitet gekämpft und eine wichtige Basis für den Kampf um die Demokratische Nation gelegt. Die Entwicklungen in Rojava haben sich mit den Perspektiven der kurdischen Freiheitsbewegung auf ein demokratisches Syrienprojekt gerichtet, das durch die Demokratische Föderation Nordsyrien zu einem Lösungsmodell für das Chaos in Syrien geworden ist.
Der türkische Staat sieht diese Entwicklungen als Bedrohung seiner Existenz und hat daher versucht, seine antikurdischen Allianzen zu erneuern, um die Errungenschaften in Başûr (Südkurdistan) niederzumachen. Er verbündete sich mit dem Irak und dem Iran und griff Kerkûk an, um die Gewinne Südkurdistans so gering wie möglich zu halten. Als die Bevölkerung Südkurdistans die politische Initiative ergriff und mit den viele Tage andauernden Aufständen Druck auf den türkischen Staat und seine Kollaborateure in Südkurdistan ausübte, gewann die kurdische Freiheitsbewegung auch in Südkurdistan die Rolle einer Initiativkraft.
Auch in Rojhilat hat die kurdische Freiheitsbewegung anstelle eines Interventionismus von außen gezeigt, dass sie eine Politik verfolgt, die sich regionale Dynamiken und einen demokratischen Wandel zur Grundlage nimmt. Und auch in Nordkurdistan und der Türkei, wo die demokratische Politik unter der Repression des türkischen Staates steht, hat sie die Bevölkerung motiviert. Trotz der herrschenden Repression erlitt der türkische Staat gegen die Guerilla in Bakur eine massive militärische Niederlage. Die kurdische Freiheitsbewegung hat sich nicht nur in Kurdistan, sondern als gefestigter politischer Akteur im Nahen/Mittleren Osten sichtbar gezeigt. Die lokalen, regionalen und globalen Kräfte waren gezwungen, bei all ihren Schritte in der Türkei, dem Iran, dem Irak und Syrien, also in Kurdistan, die kurdische Freiheitsbewegung zu beachten und alle Schritte in diesem Sinne abzuwägen.
Welche Fortschritte sieht die kurdische Freiheitsbewegung in der Region?
Ein konkreter Ausdruck davon ist, dass die kurdische Freiheitsbewegung ein massives Hindernis für die Kräfte darstellt, die die nach dem Referendum in Südkurdistan entstandene Situation nutzen wollten, um kurdische Errungenschaften zu vernichten. Sonst wäre nach der „Beendigung“ von Kerkûk eine ähnliche Operation auf Silêmanî (Suleymaniyya) und Hewlêr (Erbil) ausgeweitet worden. Und auch in den Entwicklungen im Iran und Rojhilat veränderte die Haltung der kurdischen Freiheitsbewegung den Kurs im Sinne der Völker der Region.
Alle Pläne für Rojava, Nordsyrien und sogar Syrien insgesamt nahmen dem Verhalten und dem Standpunkt der kurdischen Freiheitsbewegung entsprechend Gestalt an. Die kurdische Freiheitsbewegung ist unbestreitbar der Widerstandsfokus und die Grunddynamik des Widerstands gegen den AKP-MHP-Faschismus in der Türkei und hat es nicht erlaubt, dass sich die Erdoğan-Diktatur institutionalisieren konnte. In dieser Situation hat die Türkei, um die schon zu Beginn 2018 verlorene Initiative zurückzugewinnen, die kurdische Bevölkerung von Rojava ins Visier genommen und das aus ihrer Sicht schwächste Glied, nämlich Efrîn, ausgewählt. Dafür wurden zuvor Milliarden Dollar Bestechungsgelder an die internationalen Kräfte gezahlt. Mit Russland wurde der Kauf von S-400 Luft-Luft-Raketen, mit Frankreich der Kauf des Airbus, mit Italien der Kauf von Atak-Hubschraubern und mit Deutschland der Kauf von Panzern vereinbart. Man erhielt die Erlaubnis von Russland, den syrischen Luftraum zu nutzen, indem man Russland wirtschaftliche Zugeständnisse machte und signalisierte, sich der Anti-US- und NATO-Position anzunähern. Nach einer solchen Vorbereitung folgte dann der militärische Angriff.
Die Türkei sah Efrîn als leichte Beute an. Man dachte, man könne innerhalb von drei Tagen oder einer Woche Efrîn einnehmen und die kurdische Bevölkerung aus der Region vertreiben. Darauf wurden die Gesellschaft, die Medien und das Militär vorbereitet. Aber die ersten zehn Tage des Efrîn-Widerstands warfen die ganzen Pläne des türkischen Staates über den Haufen. Die USA und die NATO schwiegen zu dem Angriff, um die Türkei nicht an Russland zu verlieren. Russland hatte der Türkei Unterstützung gegeben, um sie von den USA und der NATO zu entfernen. Die arabischen Länder schwiegen und der Iran reagierte. Als sich der Widerstand von Efrîn entfaltete und 30 und dann 40 Tage gegen die Angriffe stand hielt, begannen zunächst die lokalen arabischen Kräfte, dann die USA, die NATO und Deutschland und „berechnend“ auch Russland die türkische Invasion auf Efrîn, wenn auch zaghaft, zu kritisieren. Die UN hatten zur Anwendung eines Waffenstillstands in Syrien aufgerufen. Aber der türkische Staat, und insbesondere das Team Bahçeli-Erdoğan, lassen sich wohl nicht so leicht von ihren Invasionsplänen abbringen. Denn wenn Erdoğan und Bahçeli den Krieg gegen die Kurd*innen auch nur ein oder zwei Tage stoppen würden, wären sie am Ende. Das wissen sie.
Wenn die Invasion auf Efrîn weitergeht, wird Syrien geteilt und Russland verlieren
Also was passiert jetzt? Das ist die Frage, die sich alle stellen. Wenn der türkische Staat seine Invasion fortsetzt, werden das Volk von Efrîn und die kurdische Freiheitsbewegung ihren Widerstand ebenfalls verstärkt fortsetzen. Dieser Widerstand wird die lokalen, regionalen und globalen Kräfteverhältnisse in den Grundfesten erschüttern. Die kurdische Freiheitsbewegung warnt die wichtigen Akteure und Strukturen, „niemand solle die Rechnung ohne den Wirt machen“.
Die Kurd*innen haben keinerlei Interesse an dem Status quo der Klassen- und Nationalstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts und ihrer Führung. Es gibt 40 Millionen Kurd*innen, und sie stellen eine Kraft dar, die das politische und soziale Gleichgewicht in den wichtigsten Staaten des Mittleren Ostens, dem Iran, der Türkei, dem Irak und Syriens bestimmt. Diejenigen, die in einem Teil Kurdistans Schwächen zu entdecken meinen, dort angreifen und glauben, sie könnten so den Status und die Errungenschaften der Kurd*innen vernichten, sei empfohlen, auf Kobanê, Şengal, Raqqa und Maxmur zu blicken. Den Staaten mit den größten Armeen der Welt, welche die NATO-Mitglieder und die westlichen Staaten hinter sich haben und mit den Staaten, die Kurdistan als Kolonie besetzt halten, antikurdische Allianzen bilden, gibt die heutige Lage ebenfalls ein Beispiel. Der türkische Staat muss die Lage im Irak und in Syrien gut analysieren. Ein türkisches nationalstaatliches System, das auf der Leugnung der Kurd*innen basiert, hat keinen Platz mehr in der Region und auf der Welt.
Außerdem sind die Kurd*innen nicht dieselben wie Anfang des 19. und 20. Jahrhunderts. Sie haben militärisch, ökonomisch, politisch, diplomatisch und gesellschaftlich die Kraft, ihren Status und ihre Zukunft zu schützen. Wer auch immer welchen Teil der Kurd*innen angreift, wird eine politische Kraft aller Kurd*innen mit einem nationalen und demokratischen Bewusstsein und eine ebensolche militärische Kraft erleben. Dass eine Region wie ein schwaches Gebiet aussieht, bedeutet nicht, dass die Kurd*innen verlieren werden. Die Kurd*innen richten sich nicht auf Beziehungen aus, die auf Klasse, Nation oder lokale Mächte konzentriert sind. Stattdessen bauen sie auf eine breite nationale Einheit und eine demokratische Gemeinschaft mit den Völkern, mit denen sie zusammenleben. Es ist nützlich, den Widerstand von Efrîn, der nun schon 44 Tage andauert, in diesem Sinne zu interpretieren.
Den Widerstand von Efrîn aus der Realität der Region heraus interpretieren
Wenn man die kurdenfeindliche Politik der Erdoğan-Bahceli-Diktatur zur Grundlage nimmt und die Sonderkriegsberichterstattung des türkischen Staates sowie die nationalistische Hysterie innerhalb der Gesellschaft mit „Furcht“ interpretiert, dient man dem Faschismus und unterwirft sich ihm.
Stattdessen erleben der türkische Staat und das Erdoğan-Bahçeli-Duo seine schwächsten und schlimmsten Momente, sowohl in Person als auch in der Staatsstruktur. Sie versuchen ihr Leben mit Hilfe von Soldaten, Polizei und dschihadistischen Banden zu verlängern. Russland selbst verhält sich mit seiner Unterstützung der Türkei angesichts der Realität des Mittleren Ostens wie ein unerfahrenes Kind. Russland ist gerade dabei, sich den in Syrien militärisch schwer erkämpften Einfluss in der Region durch die Benutzung der Türkei zu verspielen. Denn Russland zieht für seine Vorteile die Türkei und Syrien vor. Das haben weder die Kurd*innen noch die Araber*innen übersehen. Daher werden aus einer möglichen Lösung in Syrien – egal, auf welcher Basis dies geschieht – keine guten Ergebnisse für Russland erwachsen. In Bezug auf die USA ist die Lage ähnlich. Die USA und Russland können als Supermächte in Syrien machtloser als jeder lokale Stamm werden. Insbesondere der Glaube, die kurdische Dynamik dem System der Vernichtung und Verleugnung der Türkei opfern zu können, bringt sowohl für die USA, als auch für Russland die Möglichkeit eines vollständigen Zusammenbruchs in Syrien mit sich.
Unterstützt Russland den IS und al-Nusra in Efrîn?
Faschistische Kräfte wie al-Nusra, die eine globale Bedrohung darstellen, gegen die Kurd*innen in den Krieg ziehen zu lassen, den Iran und die schiitische Achse mit einem sunnitischen Islam und dem türkischen Faschismus auszubalancieren zu versuchen, wird zu ungewünschten Resultaten führen. Die Folgen werden sich in Russland, den USA und Europa manifestieren. Denn der türkische Staat möchte mit der Besatzung Efrîns dem IS, al-Nusra und anderen Banden ein Gebiet öffnen und einen salafistischen Kleinstaat von Efrîn bis Nord-Idlib und entlang der Linie Cerablus-Azaz aufbauen. Der türkische Staat arbeitet auf diesem Gebiet sowohl mit Organisationen der Muslimbruderschaft als auch mit Strukturen wie dem IS und al-Nusra zusammen. Obwohl Russland es am besten weiß, wie es um die Beziehungen zwischen dem türkischen Staat und IS/al-Nusra bestellt ist, stellt sein Schweigen dazu eine Aufmerksamkeit erregende Besonderheit dar. Russland plant nicht nur die Türkei gegen die USA und die NATO auszuspielen. Gleichzeitig benutzt Russland die unter der Garantie des türkischen Staates agierenden Banden in der Region. Russland, das einerseits in Idlib und Ghuta gegen den IS und al-Nusra kämpft, hat andererseits in Efrîn eine gemeinsame Position mit diesen Gruppen eingenommen. Und die Zukunft dieser Politik ist dunkel. Durch Russlands Politik entsteht aufgrund der Risiken, die sie für den Iran, die USA und die Völker der Region mit sich bringt, ein neues Kräftegleichgewicht in der Region
Zusammengefasst sind in dieser chaotischen Gegend die Kurd*innen die Kraft, die auf sich selbst vertraut. Sie beziehen sich militärisch wie ideologisch auf sich selbst. Die kurdische Dynamik hat mit ihren Allianzen Erfolge geschaffen, welche sich auf die ganze Region auswirken. Sie hat die Widersprüche bis ins kleinste Detail interpretiert und sich entsprechend positioniert. Deshalb sollte niemand falsche Berechnungen in Bezug auf Efrîn und die Kurd*innen anstellen.