Bahoz Erdal: Jede kurdische Familie ist eine Kriegsfront

Der Guerillakommandant Bahoz Erdal ruft zur Wachsamkeit angesichts der Spezialkriegsmethoden des türkischen Staates auf.

Im kurdischen Fernsehsender Stêrk TV hat sich Bahoz Erdal, einer der Kommandanten des zentralen Volksverteidigungs-Hauptquartiers, zu den vom türkischen Staat angewandten Methoden der psychologischen Kriegsführung geäußert. Dabei ging der Guerillakommandant darauf ein, wie dieser Krieg von der Vergangenheit bis heute geführt wird und welche Resultate dadurch entstehen. Der eigentliche Krieg finde nicht zwischen der türkischen Armee und der Guerilla statt, erklärte Erdal und verwies auf das Embargo, die Spitzelanwerbung, die Verhaftungen, das Klima der Angst und die Verantwortung, die insbesondere den kurdischen Familien zufällt. Jede Familie sei zu einer Kriegsfront geworden, so Bahoz Erdal.

Einschüchterung durch Spezialkriegsmethoden

Erdal erläuterte, dass der türkische Staat mit seinen Spezialkriegsmethoden darauf abziele, Zweifel und Misstrauen in der Bevölkerung zu wecken. Es werde eine Einschüchterungskampagne geführt, in deren Rahmen die Menschen ausgehungert, verhaftet und sogar ermordet werden. „Die Bevölkerung soll den Glauben an den Befreiungskampf und die eigene Stärke verlieren. Es wird versucht, eine Stimmung der Hilflosigkeit zu erzeugen. Gleichzeitig wird der Staat als groß und unbesiegbar dargestellt. Dieser Spezialkrieg findet seit Gründung der Republik Türkei systematisch und in Form eines Genozids gegen unser Volk statt. In den Herzen und Köpfen der kurdischen Menschen soll Angst herrschen.“

Vor und nach 2015

Bis zum Jahr 2014 habe die AKP sich darum bemüht, zur Hoffnungsträgerin für die Bevölkerung zu werden. Die Menschen sollten daran glauben, dass die Regierung ihre Identität anerkenne, und entsprechend in ihrem Kampf nachlassen. Seit 2015 habe die AKP den gesamten Staatsapparat hinter sich und versuche die allgemeine Wahrnehmung dahingehend zu manipulieren, dass der Staat mit seiner hochentwickelten Kriegstechnik unbesiegbar sei, erklärte Erdal weiter. In beiden Zeitphasen habe es Menschen gegeben, die sich von diesen Methoden hätten beeinflussen lassen.

Die Auswirkungen der Militärtechnologie

„Seit drei Jahren setzt der türkische Staat und insbesondere die Erdoğan-Regierung die ganze Hoffnung in die Militärtechnologie. Vor allem wird viel Vertrauen in Kampf- und Aufklärungsflugzeuge gesetzt. Zweifellos beeinflusst diese Technik die Bewegungsweise der Guerilla und wirkt sich hinderlich aus. Das ist eine Tatsache. Die Guerilla Kurdistans hat jedoch innerhalb von 35 Jahren Krieg bewiesen, dass sie sich, ihre Taktik und ihre Vorgehensweise allen Bedingungen anpassen kann. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele. Als erstmalig Cobra-Hubschrauber, F-15, Thermalkameras und mit Thermalkameras bestückte Panzer im Krieg eingesetzt wurden, musste eine Umstellung stattfinden. Die damals neue Technik hat sich wie heute die Luftwaffentechnik auf den Krieg ausgewirkt. Die Kreativität und die Fähigkeit der Guerilla zu Erneuerung können sie jedoch wirkungslos machen. Die Guerilla hat in letzter Zeit ausführliche Weiterbildungs- und Erneuerungsprozesse durchlebt. Mit ihrer Erfahrung und ihrer Wandlungsfähigkeit kann sie diese Technik unterlaufen und damit die Hoffnung des türkischen Faschismus zunichtemachen.“

Die Guerilla kämpft aus Überzeugung

Neben seiner Luftwaffentechnologie setze der türkische Staat auch auf sehr klassische Methoden, erklärte Bahoz Erdal. So sei ein weiteres Mal ein Embargo gegen Kurdistan angekündigt worden, mit dem die Guerilla ausgehungert werden solle. „Diese Dummköpfe haben immer noch nicht begriffen, dass die Guerilla aus Überzeugung und Verbundenheit kämpft. Die Kämpferinnen und Kämpfer sind bereit, ihr Leben für die Freiheit ihres Volkes und ihres Landes zu opfern. Selbst wenn sie Blätter und Erde essen müssen, keine Schuhe und keine Decke haben, verfügen sie über den Willen und die Entschlossenheit, damit zurechtzukommen und alle Pläne der Besatzungskräfte ins Leere laufen zu lassen. Diese Wahrheit sollte auch der Feind langsam begreifen. Gegen Kurdistan soll ein Embargo durchgesetzt werden, angeblich damit die Guerilla keine logistische Versorgung mehr erhält. Eigentlich soll jedoch die Bevölkerung durch das Embargo bestraft werden. Der Feind hat gesehen, dass er die Menschen durch Verhaftungen und Mord nicht zur Kapitulation zwingen kann. Daher sollen sie jetzt ausgehungert werden, um ihren Willen zu brechen.“

Aus Patrioten werden Agenten gemacht

Bahoz Erdal ging außerdem auf die intensiven Bemühungen des türkischen Staates zur Agentenanwerbung ein. „Das Dorfschützer-System hat in Kurdistan eine Niederlage erlitten und ist im Moment eher eine Last für den türkischen Staat. In letzter Zeit wurden viele Dorfschützer hinausgeworfen. Es gibt bei uns Freundinnen und Freunde, die aus Dorfschützer-Familien kommen, aber bei der Guerilla gegen den Feind kämpfen.

Der türkische Staat beschäftigt sich in letzter Zeit in Zusammenarbeit mit dem MIT, der Jandarma und der Polizei intensiv mit dem Nachrichtenwesen, denn er weiß genau, dass ihm seine gesamte Technik nichts nützt, wenn er keine hundertprozentig richtigen Informationen erhält. Damit diese Technik überhaupt funktioniert, muss der Feind konkrete Informationen über die Guerillacamps und Guerillabewegungen bekommen. Und wie kommt er an diese Informationen? Wer keinen Kontakt zur Guerilla hat, kann auch keine konkreten Informationen liefern. Und wer hat Kontakt zur Guerilla? Patriotische Menschen, unsere Milizionäre sowie die Familien von Guerillakämpfern und Gefallenen. Deshalb fokussiert der Feind seine Anstrengungen insbesondere auf diese Familien. Es wird versucht, einen Schwachpunkt bei einem Familienmitglied auszumachen. Dann wird diese Einzelperson bedroht und erpresst. Ihr wird gesagt: ‚Wir kennen deine Schwachstelle, wenn du uns keine Informationen lieferst, werden wir sie benutzen.‘ Den Betroffenen wird Angst eingejagt und sie werden mit harten Strafen bedroht. Für diese Praxis gibt es etliche Beispiele. Daher tragen gerade die patriotischen Familien eine hohe Verantwortung. Wir glauben daran, dass das Volk das alles erkennt und die notwendigen Vorkehrungen trifft. Das betrifft die legale Arbeit und zivilgesellschaftliche Einrichtungen ebenso wie die Dorfbevölkerung und die Ortsvorsteher. Alle müssen bei diesem Thema wachsam sein. Das ist auch der Hauptgrund dafür, dass in den letzten Tagen so viele Ortsvorsteher des Amtes enthoben werden. Da die Dorfschützer nichts mehr nützen, sollen die Ortsvorsteher zu Agenten gemacht werden. Wer das nicht akzeptiert, wird abgesetzt. Die Haltung der Bevölkerung dazu ist notwendiger Teil des Patriotismus, aber sie ist auch von großem Wert und großer Bedeutung. Die Menschen lehnen das Agententum ab, sie wollen sich nicht mit dem Blut der eigenen Bevölkerung besudeln und beziehen Stellung dagegen.“

Die türkische Armee kann die Guerilla nicht besiegen

Bahoz Erdal verwies in seiner Analyse auf die Gesamtheit der militärischen und politischen Angriffe des türkischen Staates und erinnerte erneut daran, dass die Guerilla über 35 Jahre militärischer Erfahrung verfüge: „Wir erleben von Zeit zu Zeit Schwierigkeiten und es kommt vor, dass eine unserer Einheiten in irgendeinem Gebiet schwer getroffen wird. Die Guerilla ist jedoch heute nicht mehr nur die Guerilla Kurdistans, sondern des gesamten Mittleren Ostens. Sie hat eine solche Stärke erreicht, dass die Kraft der türkischen Armee nicht ausreicht, sie grundsätzlich zu schwächen. Auch in politischer Hinsicht verfügt das kurdische Volk über Erfahrung. Es mag zu Problemen und Fehlern kommen, aber die Kurden haben gelernt, wie Politik gemacht wird. Wirklich gefährlich ist für unser Volk im Moment jedoch der systematisch geführte Spezialkrieg. Die psychologische Kriegsführung wird gegen die Gesellschaft angewandt und stellt die größte Gefahr dar. Der Krieg findet nicht nur zwischen der Guerilla und der türkischen Armee statt. Es handelt sich um einen totalen Krieg, den der türkische Staat unserem Volk erklärt hat. Wir sind mit einer Denkweise konfrontiert, in der die kurdische Existenz nicht anerkannt wird. Wir sind jedoch ein Volk und leben in unserem eigenen Land. Das kurdische Volk war bereits hier und hat seine eigene Kultur gelebt, bevor die Türken in diese Gegend gekommen sind.“