Die Angst der AKP-Regierung vor Strafverfolgung

Der Autor und Theologe Ihsan Eliaçık sagt, die AKP versuche nationalistisch und religiös zu polarisieren, um sich selbst um jeden Preis an der Macht zu halten.

Der Theologe und Schriftsteller Ihsan Eliaçık hat sich im ANF-Interview zu den politischen Diskursen geäußert, mit denen sich die AKP an der Macht zu halten versucht. Er sieht die Repression und das Festhalten der AKP an der Macht in der Angst begründet, eines Tages Rechenschaft für die begangenen Verbrechen ablegen zu müssen.

Palast verschlingt 3970 Mindestlöhne täglich“

Tayyip Erdoğan hat eine Frau mit Kopftuch an der Seite des CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu als „Schaufensterpuppe“ beleidigt und damit die Kopftuchdebatte erneut angefacht. Wie betrachten Sie das immer neue Aufgreifen dieser Debatte durch die AKP?

Erdoğan tut dies schon lange, und wenn wir zurückblicken, können wir sehen, dass religiöse Fragen im politischen Leben der Türkei einen großen Platz einnehmen. Zum Beispiel kam Adnan Menderes an die Macht, indem er erklärte, dass er den Gebetsruf wieder ins Arabische übersetzen würde, das heißt zum Original zurückkehren werde. 18 Jahre lang war auf Türkisch zum Gebet gerufen worden. Erdoğan kam an die Macht, indem er sagte, er würde das Kopftuch überall freigeben. Das war sein wichtigstes Versprechen. Viele Menschen in der Türkei waren von der Kopftuchfrage betroffen. Das gab der AKP Rückenwind. Deshalb ist das Kopftuch das Hauptthema der AKP-Politiker. Wenn sie heute neben dem CHP-Vorsitzenden Kılıçdaroğlu eine Frau mit Kopftuch sehen, führen sie sich auf, als hätte man ihnen ihr Spielzeug weggenommen. Sie fordern ihr Spielzeug zurück und schrecken dabei nicht einmal davor zurück, die Frau mit Kopftuch als „Schaufensterpuppe“ zu beleidigen.

Dieses Problem gibt es also, aber es ist sicher nicht das Hauptproblem der Türkei. Ja, es gibt dazu auch eine gesellschaftliche Erwiderung, aber das eigentliche Problem liegt woanders. Das Problem ist, dass die Haushaltsverhandlungen abgeschlossen wurden und die täglichen Ausgaben des Palastes auf elf Millionen festgesetzt wurden. Gleichzeitig wurde der Mindestlohn kürzlich auf 2.825 Lira [etwa 311 Euro] festgesetzt. Der Palast verschlingt also 3.970 Mindestmonatslöhne täglich. Das ist das wirkliche, dauerhafte Problem. Um das zu vertuschen, wollen sie die politische Diskussion in Bereiche lenken, die sie gut kennen. Deshalb versuchen sie so oft, über Religion zu diskutieren, und das Kopftuch ist in dieser Hinsicht eine der grundlegendsten Fragen.

Hagia Sophia hätte in eine Kirche umgewandelt werden müssen“

Wie Sie sagten, kommen religiös konnotierte Themen häufig zur Sprache. Die Übernahme der Hagia Sophia zum Beispiel wurde von einem Konglomerat aus nationalen und religiösen Gefühlen begleitet. Worauf deuten diese Entwicklungen hin?

Es zeigt, dass die AKP in diesen Fragen erfolgreich ist und zumindest ihre Stimmen wahrt, wenn sie diese Themen aufwirft. Die Hagia-Sophia-Kontroverse ist auch so ein Beispiel. Eigentlich wurde nicht getan, was nötig gewesen wäre.

Was hätte Ihrer Meinung nach getan werden müssen?

Wenn man nicht politisch, sondern im Sinne von Wahrheit und Gerechtigkeit überlegt, dann hätte die Hagia Sophia in eine Kirche umgewandelt werden müssen, weil wir so eine Moschee nicht brauchen. Wir brauchen keine weitere Kirche, die zur Moschee umgebaut wird. Das ist ein vor 500 Jahren abgeschlossenes Thema. Wir sind diejenigen, die jetzt Geschichte schreiben, es gibt bereits 50 bis 60 Moscheen in der Umgebung der Hagia Sophia. Die Sultan-Ahmet-Moschee liegt direkt gegenüber. Das hätte ein Symbol des Pluralismus und der Toleranz für die ganze Welt sein können. Die AKP wollte eine andere Botschaft senden, indem sie religiöse und nationale Gefühle provozierte und Identitätspolitik machte. Es wurde sogar eine Waffe gezogen. Ein Blick auf die Umfragen zeigt, dass das nichts gebracht hat. Eine historische Einrichtung ist völlig umsonst einer unrealistischen und betrügerischen religiösen Identitätspolitik geopfert worden.

Die AKP verfolgt immer noch einen vermeintlich antielitären Opferdiskurs. Dieser Diskurs wurde mit der Ernennung eines AKP-Politikers als Rektor der Boğaziçi-Universität von neuem angeheizt. Aber hat die AKP nicht ihre Identität als Underdog verloren, vor allem, weil sie im Mittelpunkt vieler Skandale um illegale Profite, Paläste und Pomp steht?

Eine der größten Fähigkeiten Erdoğans ist es, die andere Seite für das verantwortlich zu machen, was er selbst getan hat. Er selbst bringt den Elitismus zur Perfektion, aber beschuldigt die Gegenseite dessen. Er perfektioniert das Unrecht, aber wirft der Gegenseite Unrecht vor. Er stellt sich immer als Opfer dar, aber er ist schon lange zu einem elitären Machtmensch und Palastherrn geworden. Die AKP-Anhänger lassen sich immer noch als die ausgestoßenen gläubigen Opfer in der Türkei darstellen. Und sie beabsichtigen, diese Definition niemals aufzugeben. Erdoğan stellt sich immer noch als Opfer dar, obwohl er in Luxus und Pomp im Palast lebt, sein Fuß nicht den Asphalt berührt und niemals den roten Teppich verlässt. Die CHP-Anhänger, die Menschen von Beşiktas, Kadiköy und Boğaziçi, sind für sie elitär. Die AKP-Politiker stellen sich als Stimme der Opfer dar, die aus Anatolien mit gebeugten Schultern nach Kasımpaşa gekommen sind und mit ländlicher Attitüde durch die Straßen ziehen. Das ist die Identität, die Erdoğan seit Jahren aufgebaut hat, aber seither ist viel Wasser den Bach hinunter geflossen. Die ersten beiden Legislaturen können vielleicht noch innerhalb dieser Identität betrachtet werden, aber das ist jetzt anders. Die AKP-Politiker sprechen von Elitismus, aber was ist Elitismus? Es ist Elitismus, Wahlen nicht anzuerkennen. Es ist Elitismus, abgetrennt vom Volk in einem Palast zu leben oder einen Beamten als Treuhänder zu ernennen. Sie kennen auch die Studierenden an der Boğaziçi-Universität nicht. 70 Prozent von ihnen kommen aus Anatolien. Es handelt sich um Kinder aus Anatolien oder von Kindern aus Familien aus Anatolien, die nach Istanbul migriert sind. Es sind nicht die Kinder der Oberschicht, die dort studieren.

Die Angst raubt der Regierung den Schlaf“

Die Repression durch das AKP-Regime hat massiv zugenommen. Wie passt das mit dem Opferdiskurs zusammen?

Im Allgemeinen erhöhen Regime, wenn sie ans Ende ihrer Macht kommen, die Repression. Sie wehren sich dagegen, abzutreten. Selbst wenn der Präsident unter diesen Umständen in den Ruhestand geht, könnte er ein elitäres, luxuriöses Leben führen. Der Hauptgrund ist aber, dass die Regierungspolitiker in Verbrechen verwickelt sind, sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene, vom Geldschmuggel bis hin zu Massakern und Morden. Sie sind zu Verdächtigen vieler Straftaten geworden. Während ihrer Zeit an der Macht gab es viele Massaker und unaufgeklärte Morde. Es ist bekannt, wer diese Verbrechen begangen hat, aber es wird nichts getan. Gleichzeitig wurde das Land von Korruptionsskandalen erschüttert, aber auch hier wurde nichts Konkretes unternommen. Sie wissen sehr wohl, dass diese Akten nach ihrem Abtritt von der Macht sowohl international als auch im Inland wieder geöffnet werden. Die Skala der Verbrechen reicht wie gesagt vom Geldschmuggel bis hin zu Kriegsverbrechen. Es ist ihre Angst, dass der Rest ihres Lebens nicht mehr so gut laufen wird, die sie dazu treibt, um jeden Preis an der Macht festzuhalten. Diese Angst bringt sie um den Schlaf, also hören sie nicht auf, alle möglichen Formen der Repression anzuwenden, um zu vermeiden, die Macht zu verlieren.