Canpolat: „Öcalan ist unsere rote Linie“

1999 rief Öcalan PKK-Mitglieder dazu auf, in die Türkei zu reisen, um die „Unterstützung für die demokratische Republik und eine positive Absichtserklärung“ zu demonstrieren. İmam Canpolat reiste aus Wien in die Türkei und wurde inhaftiert.

Mit dem internationalen Komplott gegen Abdullah Öcalan wurde eine neue Seite in der kurdischen Frage aufgeschlagen. Am 22. September 1999 rief Öcalan PKK-Mitglieder dazu auf, in die Türkei zu reisen, um die „Unterstützung für die demokratische Republik und eine positive Absichtserklärung“ zu demonstrieren. Auf diesen Aufruf hin ging am 1. Oktober 1999 die „Erste Friedens- und Demokratiegruppe“ bestehend aus Ali Sapan, Seydi Fırat, M. Şirin Tunç, İsmet Baycan, Sohbet Şen, Yüksel Genç, Yaşar Temur und Gülten Uçar in die Türkei. Die acht Mitglieder der Delegation wurden sofort beim Übergang in die Türkei festgenommen und als „Mitglieder einer Terrororganisation“ inhaftiert. Um die aufgeladene Atmosphäre aufzulockern, machte Öcalan einen zweiten Aufruf. An dieser zweiten Delegation nahm neben Haydar Ergül, Ali Şükran Aktaş, Aygül Bidav, Yusuf Kıyak, Aysel Doğan und Hacı Dilek Kurt auch İmam Canpolat teil. Diese Delegation reiste am 29. Oktober 1999 aus Wien in die Türkei. All diese wurden wiederum in Istanbul vor Gericht geführt und mit Gefängnisstrafen zwischen 6 und 15 Jahren bestraft. In einem Interview hat sich der kurdische Politiker İmam Canpolat zur Situation von Abdullah Öcalan geäußert.

Öcalan ist einer verschärften Isolation ausgesetzt. Im Zuge einer jüngst verhängten Disziplinarstrafe gegen ihn hat diese Isolation ein neues Niveau erreicht. Welche Absicht steckt hinter dieser derart umfassenden Isolationspolitik?

Ich möchte ein wenig weiter zurückblicken, um die Bedeutung der aktuellen Phase zu veranschaulichen. Wir müssen uns das Internationale Komplott in Erinnerung rufen, durch das Abdullah Öcalan gefangen genommen wurde. Außerdem ist es wichtig, sich die Mission Öcalans zu vergegenwärtigen. Warum wurde er der Türkei übergeben? Wir müssen verstehen, warum seine Gefangennahme überhaupt betrieben wurde. Zehn Jahre vor Öcalans Inhaftierung war der Realsozialismus zusammengebrochen und die kapitalistische Moderne hatte sich selbst zur Siegerin erklärt. Die USA setzten sich dann in ihrer Funktion als globaler Polizist des Kapitalismus das Ziel, die Welt neu zu ordnen. Der damalige US-Präsident George Bush forderte damals, die Weltordnung hänge von nun an einzig und allein von den USA ab und man habe sich bei Problemen an sie zu wenden.

Ein Großteil der kommunistischen Parteien und revolutionären Bewegungen auf der Welt zerfielen damals. Die verschiedenen Klassen und Völker, die für fortschrittliche Werte und die Revolution gekämpft hatten, blieben unorganisiert und führungslos zurück. Der Wind der kapitalistischen Moderne blies kräftig und verbreitete sich machtvoll auf der gesamten Welt. Viele Wirtschaftsprofessoren, die sich selbst als sozialistisch bezeichneten, biederten sich damals dem kapitalistischen System an. Genau während dieser chaotischen globalen Phase entwickelte Öcalan das Paradigma der neuen Epoche auf Grundlage von Basisdemokratie, Ökologie und Frauenbefreiung. Das kurdische Volk und sein Kampf entlang dieses Paradigmas erhielten immer größere Aufmerksamkeit von den anderen Völkern dieser Welt. Die Mächte der kapitalistischen Moderne erkannten, dass Öcalans Ideen eine Alternative zu ihrem eigenen System darstellten und letztendlich die Neuordnung der Welt in ihrem Sinne behindern würden. Sie begannen also Maßnahmen zu ergreifen, um den Freiheitskampf der Kurdinnen und Kurden in die Knie zu zwingen, und versuchten, Abdullah Öcalan zur Abkehr von seiner Ideologie zu bewegen.

In diesem Zusammenhang begann der Druck auf Hafiz al-Assad, der dem nicht lange standhalten konnte und sich den kapitalistischen Mächten fügte. Öcalan entschied sich daraufhin im Vertrauen auf einige „falsche Freunde“ Syrien in Richtung Europa zu verlassen, um dort seine Bemühungen um Frieden und eine politische Lösung fortzusetzen. Hätte er eine kriegerische Lösung vorgezogen, wäre er in die Berge Kurdistans und zur Guerilla gegangen. Seitdem sind genau 20 Jahre vergangen. Die kapitalistische Moderne hat versucht, die Welt neu zu ordnen. Sie ist damit jedoch gescheitert und befindet sich heute in einer strukturellen Krise, für die sie keine Lösung findet. Staaten wie die USA, Russland, die Türkei oder der Iran schaffen nur immer neue Probleme, indem sie versuchen, die Krise für sich zu nutzen.

Die Bewegung Abdullah Öcalans ist heute die Kraft, die über eine entschlossene und alternative Widerstandslinie und Ideologie verfügt, auf deren Grundlage sie gegen die strukturelle Krise der kapitalistischen Moderne kämpft. Die Isolation Öcalans auf der türkischen Gefängnisinsel steht in direktem Zusammenhang mit dieser Entwicklung.

Der Widerstand Öcalans auf Imralı dauert nun seit 20 Jahren an. Ist es gelungen, diesen Widerstand von ihm ausreichend zu unterstützen? Wie können die Schwächen in der Unterstützung überwunden werden?

Abdullah Öcalan leistet seit dem ersten Tag seiner Verhaftung ununterbrochen Widerstand. Manche Kreise verstanden seine Widerstandshaltung zu Beginn nicht. Die kurdische Bevölkerung hat sich auch nach der Verhaftung um Öcalan gesammelt. Zahlreiche Menschen haben ihr Leben dabei verloren. Insbesondere die kurdische Jugend war von Anfang an sehr aktiv. Auch die Guerilla der PKK hat als Reaktion auf Öcalans Inhaftierung ihren Widerstand intensiviert. Die jahrelangen Volksaufstände der Kurdinnen und Kurden, ihr umfassender Widerstand und die von ihnen verfolgte Politik haben den türkischen Staat auflaufen lassen. Er musste Gesetzesänderungen vornehmen, z. B. die Abschaffung der Todesstrafe.

Öcalan hat im Verlauf der Jahre seinen Widerstand intensiviert und immer weiter fortgesetzt. Deshalb wurde seine Isolation verschärft. Die Unterstützungsaktionen und Proteste außerhalb der Gefängnismauern werden dem Widerstand von Imralı nicht gerecht. In der letzten Zeit ist die Beteiligung an diesbezüglichen Protesten und Veranstaltungen zu schwach. Einige Kreise bewerten das als Abnahme der Unterstützung für die Freiheitsbewegung durch die kurdische Bevölkerung. Das stimmt aber nicht. Die Menschen sind nicht von der Freiheitsbewegung abgerückt, doch gehen sie weniger auf die Straße. Die Menschen leisten aber weiter entschlossen Widerstand gegen den türkischen Faschismus und den psychologischen Krieg, den die Kräfte der kapitalistischen Moderne führen.

Die Freiheitsbewegung setzt ihren Widerstand gemäß der durch Öcalan begründeten Widerstandstradition fort. Es handelt sich bei ihr um eine Bewegung, die in den schwersten Momenten am entschlossensten Widerstand leistet. Die Widerstandsaktion von Ümit Acar ist eine klare Botschaft, auch wenn die Art und Weise dieses Protests nicht vollständig im Sinne Öcalans sein mag. Ümit Acar hat uns allen eine klare Botschaft gesendet: Erstens, es findet ein Völkermord gegen das kurdische Volk statt. Durch seine militärische, wirtschaftliche und politische Unterstützung für den türkischen Staat macht sich Deutschland mitschuldig an diesem Völkermord. Dagegen hat Ümit protestiert. Zweitens hat er gegen die verschärfte Isolation Öcalans protestiert. Drittens ruft er mit seiner Aktion die kurdische Bevölkerung, die Jugend und Frauen dazu auf, sich um Öcalan zu versammeln und Aufstände zu beginnen.

Sie waren ein Mitglied der „Friedensgruppe“. Wie ordnen Sie den Einsatz Öcalans für die Freiheit und den Frieden historisch ein?

1993 erklärte Öcalan den ersten Waffenstillstand. Seither setzte er sich noch intensiver für einen Frieden auf der Grundlage von Gleichheit und Freiheit ein, aber nicht nur für die Kurdinnen und Kurden. Er bemüht sich seither um eine politische Lösung der Probleme aller Völker im Mittleren Osten.

Wenn wir uns die Geschichte der Revolutionen auf der Welt ansehen, stoßen wir auf einige Revolutionen, welche die Grenzen der Länder überschritten und zur Inspiration für die verschiedensten Gesellschaften wurden: 1848, 1871, 1917 oder 1968 sind Beispiele dafür. Der von Abdullah Öcalan entwickelte Begriff der demokratischen Moderne und seine damit einhergehenden ideologischen Überlegungen zeigen uns den Weg für eine weltweite Revolution in unserer heutigen Epoche. Die Revolution in Rojava ist dafür ein ganz praktisches Beispiel. Sie ist eine Revolution der Frau und wird zugleich von den verschiedenen Völkern der Region gemeinsam vorangetrieben.

Heute ist die kurdische Freiheitsbewegung ein Anziehungspunkt für die internationalistische Solidarität, ähnlich wie die Bewegungen von Marx und Lenin im 19. und 20. Jahrhundert. Die Rojava-Revolution ist keine gewöhnliche Revolution. Sie findet inmitten eines Weltkrieges statt. Sie weckt neue Hoffnungen und schafft neue Werte in einer Zeit, in der die kapitalistische Moderne ihren Erfolg proklamiert. Das ist die Errungenschaft der Bewegung Abdullah Öcalans.

Die kapitalistischen Mächte und der türkische Staat tun alles dafür, Öcalan vergessen zu machen. Sie wollen, dass wir uns daran gewöhnen und unseren Widerstand beenden. Deshalb wird er isoliert und gefoltert. Doch Abdullah Öcalan ist die rote Linie des kurdischen Volkes und aller Völker des Mittleren Ostens. Jede Gesellschaft hat gewisse Vorbilder, Werte, Heldinnen und Helden und Symbole. Abdullah Öcalan zu vergessen käme einer erneuten Versklavung gleich.

Am 9. Oktober vor 20 Jahren hat das internationale Komplott begonnen. Welche Formen nimmt es heute an?

Die Wut der kapitalistischen Mächte und der regionalen Kolonialregime auf Öcalan ist heute größer denn je. Sie möchten das internationale Komplott und den Völkermord an den Kurdinnen und Kurden zum Abschluss bringen. Viele verstehen nicht, wie genau das Komplott sich bis heute fortsetzt. Die kapitalistischen Mächte hatten vor 20 Jahren eigentlich den Plan geschmiedet, Abdullah Öcalan vom türkischen Faschismus entweder hinrichten zu lassen oder ihn in den Selbstmord zu treiben, womit der kurdisch-türkische Krieg bis in alle Ewigkeit eskaliert wäre. Die internationalen Mächte wollten auf diesem Weg die Türkei ähnlich wie Jugoslawien aufteilen. Doch Öcalan erkannte diese Absicht und ließ sie durch seinen Widerstand ins Leere laufen.

Heute befindet er sich unter einer noch intensiveren Isolation. Die kapitalistischen Mächte wollen das Komplott heute modifiziert fortsetzen. Die zweite Phase dieses internationalen Komplotts begann am 30. Oktober 2014, als der Nationale Sicherheitsrat der Türkei beschloss, den kurdischen Widerstand militärisch vollständig zu zerschlagen. Als Vorbild sollte das Vorgehen in Sri Lanka gegen die Tamilen dienen. So wollte man die Widerstandskraft der Freiheitsbewegung brechen und nach getaner Arbeit auch Öcalan hinrichten lassen. Doch Öcalan selbst und die Bewegung erkannten diese Absicht früh genug und verhinderten ihre Umsetzung.

Das Komplott wird also international fortgesetzt. Jetzt versuchen sie den türkischen Staat dazu zu bringen, ganz Kurdistan zu besetzen. Die grundlegende Absicht dahinter ist, den türkischen Staat und die Kurdinnen und Kurden durch einen Krieg zu schwächen und so unter Kontrolle halten zu können. In Efrîn hat man damit begonnen und will nun in ganz Kurdistan durch eine Besatzungspolitik die Guerilla stark schwächen. Die Mächte denken, dann Öcalan zur Aufgabe zwingen und die Türkei wie Jugoslawien zerlegen zu können. In diesem Kontext möchte die Türkei nun auch Minbic, Rojava und die anderen Teile Kurdistans besetzen. Auch Bradost und die Medya-Verteidigungsgebiete in Südkurdistan unterliegen tagtäglich schweren Luftangriffen und es wird versucht, in diese Gebiete einzudringen. Seit nunmehr einem Jahr finden in diesem Gebiet sehr schwere Gefechte statt. Über Bradost möchte man in das Herz des Widerstandes, die Medya-Verteidigungsgebiete, vordringen. Zurzeit sind die Angriffe aber zum Stillstand gekommen.

Der Luftraum Südkurdistans ist unter amerikanischer Kon­trolle. Ohne die Zustimmung der USA kann kein einziges türkisches Flugzeug Qendîl, Bradost oder Şengal bombardieren. So war der Mord an Zekî Şengalî nur durch die Öffnung des südkurdischen Luftraums für die Türkei durch die USA möglich. Alle Institutionen der kapitalistischen Moderne unterstützen die Politik des internationalen Komplotts. Leider hat sich auch die PDK zu einem Teil dieser Politik machen lassen.

Die Veröffentlichung eines Berichts des CPT (European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment) mit dreijähriger Verspätung zeigt, mit welch maßloser moralischer Armut und fehlender Ernsthaftigkeit hier Politik gemacht wird. Auch der Europäische Menschenrechtsgerichtshof sprach vor Kurzem in einem Urteil davon, Öcalan sei auf Imralı weder gefoltert noch schlecht behandelt worden. Diese beiden Institutionen sagen damit dem türkischen Staat, dass er machen kann, was er möchte. Einige Anwältinnen und Anwälte haben gegen das Urteil des Menschenrechtsgerichtshofs protestiert und verlangt, die Türkei für ihr Verhalten zu verurteilen. So sehr ihre Forderung berechtigt ist, dürfen sie Folgendes nicht vergessen: Wenn das CPT und der Menschenrechtsgerichtshof die Türkei verurteilen bzw. schuldig sprechen, dann erkennen sie ihre eigene Schuld an. Denn das System von Imralı ist ein System, an dem sich die ganze Welt beteiligt.

Können Sie noch etwas zu den derzeitigen Protesten für Öcalan sagen?

Wir sprechen heute von 45 bis 50 Millionen Kurdinnen und Kurden, die zum Teil zur Flucht in alle Teile der Welt gezwungen wurden. Heute wollen die Staaten dieser Welt über unser Schicksal entscheiden. Das ist in höchstem Maße unmoralisch und ungerecht. Im Dritten Weltkrieg, der heute im Mittleren Osten stattfindet, spielt die kurdische Bevölkerung eine zentrale Rolle. Sie ist die dynamischste Kraft in der Region. Auch heute wird wieder versucht, ihre Existenz zu verleugnen und ihnen einen Status vorzuenthalten. Aus diesem Grund wird Abdullah Öcalan als Geisel gehalten.

Kann ein Volk oder ein einzelner Mensch frei sein, wenn sein Repräsentant gefangen gehalten wird? Nein! Für einen Menschen sind seine Identität, Kultur, Sprache und die Gefallenen um vieles wertvoller als materielle Dinge. Abdullah Öcalan ist das Symbol für all diese Werte, denn er ist die Hoffnung, welche die Kurdinnen und Kurden wieder auf eigene Beine gestellt hat und auch alle anderen Unterdrückten dieser Welt inspiriert. Genau deshalb müssen wir Verantwortung für ihn übernehmen und uns für seine Freiheit einsetzen. Für unsere Freiheit, unsere Zukunft, unsere Heimat und unsere Würde. Widerstand gegen Öcalans Isolation zu leisten geht nur, indem wir Widerstand gegen das internationale Komplott leisten. Wir sollten wissen, dass der Einsatz für seine Freiheit zugleich bedeutet, dass wir uns für unsere eigene Freiheit, Identität, Sprache und unsere Überzeugung einsetzen.

Das Interview erschien erstmals im Kurdistan Report Nr. 200.