Berichte über Hinrichtungen von Alawiten
An der Küste Syriens dauern die am Donnerstag ausgebrochenen Auseinandersetzungen zwischen Truppen der islamistischen Regierung und Aufständischen weiter an. Die in Großbritannien ansässige Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) gab die Zahl der Toten am Freitag mit über 140 auf beiden Seiten an. Unter den Getöteten seien auch sieben Zivilist:innen. Zudem gibt es den Angaben zufolge beiderseits Dutzende Verletzte und Gefangene.
Tausende Dschihadisten nach Latakia und Tartus entsandt
Die aus der Dschihadistenallianz „Hayat Tahrir al-Sham“ (HTS) hervorgegangene Regierung des selbsternannten Präsidenten Ahmed Al-Scharaa spricht von „Überresten von Assads Milizen“, die einen gut geplanten Angriff gestartet hätten und gegen die man nun vorgehe. Sie entsandte tausende ihrer Milizionäre in die Küstenstädte Latakia und Tartus, um „Ruhe und Ordnung wiederherzustellen“, hieß es aus dem Verteidigungsministerium. Die syrische Küste ist das Kernland der alawitischen Minderheit, der auch der gestürzte Präsident Baschar al-Assad angehört. Eine in der Region in der vergangenen Nacht verhängte Ausgangssperre wurde bis Samstagmorgen verlängert.
Berichte über Hinrichtungen von alawitischen Männern
Inzwischen läuft auch ein Einsatz in Kardaha, der Heimatstadt der Assad-Familie. „Unsere Streitkräfte werden nun in Abstimmung mit den Sicherheitskräften gezielte und präzise Einsätze gegen die dem ehemaligen Regime treu ergebenen Männer ausführen“, zitierte die amtliche Nachrichtenagentur Sana einen Vertreter des Verteidigungsministeriums. Zuvor meldete SOHR anhand von überprüftem Videomaterial und Aussagen von Angehörigen der Opfer, dass „Sicherheitskräfte“ in den Städten Al-Schir und Al-Mukhtarija am Freitagmorgen 52 alawitische Männer hingerichtet hätten.
Gesellschaft für bedrohte Völker: „Willkürliche Verhaftungen und Tötungen“
Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in Göttingen zeigt sich angesichts von Berichten über willkürliche Verhaftungen und Tötungen von Angehörigen der alawitischen Minderheit alarmiert und fordert die deutsche Bundesregierung auf, sich für ein Ende der Kämpfe zwischen Sicherheitskräften der neuen islamistischen Regierung und bewaffneten Alawit:innen einzusetzen. Die GfbV ordnet die Vorfälle anders ein als die offiziellen Angaben seitens der syrischen Übergangsregierung. Demnach handele es sich bei den bewaffneten Gruppen sowohl um Anhänger:innen Assads als auch um alawitische Zivilist:innen, die sich gegen Angriffe der islamistischen Sicherheitskräfte zur Wehr setzen, heißt es in einer Pressemitteilung.
„Unter dem Vorwand, Anhänger des Assad-Regimes zu verfolgen, gehen islamistische Kämpfer der neuen sunnitisch-islamistischen Regierung in Damaskus gegen die alawitische Minderheit an der Mittelmeerküste vor. Laut unseren Quellen vor Ort gibt es willkürliche Verhaftungen und Tötungen“, berichtete der GfbV-Nahostreferent Kamal Sido am Freitag. Es müsse verhindert werden, dass frühere Mitglieder des Terrornetzwerks Al-Qaida und der Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS), die jetzt Teil der neuen sogenannten syrischen Armee seien, unter dem Vorwand, Überreste des Assad-Regimes zu bekämpfen, Verbrechen an Zivilist:innen begehen.
Einbindung aller Bevölkerungsgruppen in die Regierung
„Alle Verhaftungen von Anhängern des alten Regimes müssen bis zur Bildung einer Regierung der nationalen Einheit eingestellt werden. Es muss Aufgabe dieser Regierung sein, die Verbrechen des Assad-Regimes aufzuarbeiten und die Verantwortlichen strafrechtlich zu verfolgen.“ Für eine nachhaltige politische Lösung fordert die GfbV eine breite Einbindung aller Bevölkerungsgruppen in die neue syrische Regierung. Neben der islamistischen HTS müssten auch die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), drusische Verbände aus dem Süden sowie Vertreter:innen der alawitischen Gemeinschaft von der Mittelmeerküste beteiligt werden. Zudem müsse der Abzug aller ausländischen Kräfte aus Syrien konsequent umgesetzt werden. Nach dem Rückzug der iranischen Truppen und der Hisbollah-Miliz sei es ebenso notwendig, dass auch die Türkei sowie nicht-syrische sunnitische Islamisten das Land verlassen.
USA, Israel und Russland in der Verantwortung
Neben der deutschen Bundesregierung sieht die GfbV insbesondere die USA, Israel und Russland in der Verantwortung, den Friedensprozess in Syrien aktiv zu fördern. „Diese drei Staaten haben Truppen vor Ort und kontrollieren den syrischen Luftraum. Ohne ihre Mitwirkung wird ein friedlicher Übergang kaum möglich sein“, warnt Sido. Die Bundesregierung müsse deshalb gezielt auf diese Staaten einwirken, um ein Ende der Kämpfe und einen nachhaltigen politischen Wandel zu erreichen.
Protest gegen Festnahme wohl Auslöser der Auseinandersetzungen
Wie genau die Situation an der Küste Syriens über Nacht eskalierte, ist unklar. Die Zeitung „Junge Welt“ berichtete, die Auseinandersetzungen begannen, nachdem Bewohner:innen des Dorfes Beit Ana am Donnerstag versuchten, Regierungskräfte daran zu hindern, einen Mann zu verhaften. Beit Ana ist der Geburtsort des früheren Kommandeurs der Eliteeinheit „Tiger Forces“, Suhel Al-Hassan, den die HTS-Regierung hinter dem Aufstand vermutet. Zwar handele es sich bei den Aufständischen wohl meist um frühere Angehörige der Streitkräfte. Doch gehe es diesen weniger um eine Rückkehr des nach Russland geflohenen Assad als um Selbstverteidigung der in Latakia lebenden Alawit:innen. Denn für die Dschihadisten gelten Angehörige dieser Glaubensgemeinschaft als vogelfrei. In den letzten Monaten seien zahlreiche Alawit:innen entführt und ermordet worden – oft unter dem Vorwand von „Sicherheitsoperationen“ gegen Assad-Loyalisten.
Foto: Sogenannte syrische Regierungstruppen heute in Tartus © SANA