Ein Nachruf auf Zerge Cinêd

Die 75-jährige Zerge Cinêd erlag einem Herzinfarkt. Ihre Geschichte steht für das Leid, den Schmerz und den Widerstand des kurdischen Volkes. Cinêd hat das Massaker von Berxbotan überlebt und selbst an vorderster Front gekämpft.

Zerge Cinêd

Am 15. September 2014 begann der „Islamische Staat“ (IS) seinen Angriff auf Kobanê. Dieser Angriff läutete die Wende in der rasenden Expansion der von der Türkei hochgerüsteten islamistischen Terrormiliz ein. Der Dreifrontenangriff des IS stieß jedoch auf den erbitterten Widerstand der Menschen in Kobanê und ihrer Verteidigungskräfte. Am 26. Januar 2015 wurde die Niederlage der Islamisten verkündet. Das war der Anfang vom Ende der Territorialherrschaft des IS. Doch Regionalstaaten wie die Türkei setzten weiterhin auf die Terrorgruppe und so infiltrierten IS-Einheiten am 25. Juni 2015 von Süden, aber auch von Norden mithilfe der türkischen Armee Kobanê. Verkleidet in YPG-Uniformen zogen die Mörder von Haus zu Haus und brachten 252 Menschen um, darunter 64 Frauen und 35 Kinder.

Zerge Cinêd verlor drei Kinder und zwei Enkel bei Massaker

Das Dorf Berxbotan bei Kobanê war einer der am schlimmsten von dem Massaker betroffenen Orte. In dem kleinen Ort wurden 28 Zivilist:innen vom IS ermordet. Der IS hatte den Ort mit der Unterstützung der türkischen Armee angegriffen. Die 75-jährige Zerge Cinêd war eine der Zeug:innen dieses Abschlachtens. In ihren Erinnerungen blieben die schreckliche Stille dieser Nacht und die Gesichter der Menschen, die sie verloren hat, zusammen mit dem tiefen Schmerz, zurück. Ihre Kinder Mustafa, Helîme und Kîfah Bahaddîn sowie ihre Enkel Jiyan Bahaddîn und Aras Cinêd wurden beim Berxbotan-Massaker ermordet.

Zerge Cinêd hatte fast ihr ganzes Leben in Berxbotan verbracht. Sie wuchs dort zwischen den Spuren jahrtausendealter Geschichte und mit Schmerz und den Klagen über Unterdrückung und Verfolgung auf. Die tiefen Furchen in ihrem Gesicht zeugten von den Kämpfen, die sie geführt hat, und dem Schmerz, den sie erlebt hat. In ihren Augen spiegelte sich die schwere Last der Vergangenheit wider.

Als sie gemeinsam mit ihrem Mann Elî Bahaddîn 1986 den kurdischen Freiheitskampf kennenlernte, leitete dies einen neuen Abschnitt in ihrem Leben ein. Ihr Haus wurde ein Zentrum des Freiheitskampfes. Ihr Sohn Osman Bahaddîn (Ferhat) trat im Dorf als erster der PKK bei. Für Cinêd begann eine Zeit des Stolzes, aber auch der Trauer. Denn mit dem Aufbruch ihres Sohnes sollte sich das Schicksal des ganzen Dorfes ändern. Ihr Sohn fiel 1992 in Rûbarok und wurde zum Symbol des Widerstands. Während sie den tiefen Schmerz über ihren Verlust im Herzen trug, schlug die Entschlossenheit, für den Traum von Freiheit zu kämpfen, bei ihr und im ganzen Dorf tiefe Wurzeln.

Im Widerstand gegen das Regime

Diese politische Haltung entging auch dem Assad-Regime nicht. So wurde das Dorf immer wieder zum Schauplatz brutaler Repression. Statt Einschüchterung verstärkte diese Unterdrückung das Verlangen, die eigene Existenz und Kultur zu verteidigen. Dabei war Cinêd eine Vorreiterin des Kampfes, die vielen anderen Mut machte. Sie forderte die dunklen Schatten der Vergangenheit mit jedem ihrer Schritte, jedem Wort und jeder Handlung heraus. In einer Welt voller Gesetze und Verbote rief sie: „Ich bin hier!“ Ihr Kampf war kein persönlicher Existenzkampf, sondern wurde zur Stimme und zum Wort des kurdischen Volkes. Sie lebte weiter als ewiges Symbol des Widerstands und der Hoffnung und zu einem unerschütterlichen Denkmal des Widerstandes gegen Ungerechtigkeit und des Kampfes für Identität und Sprache.

Zerge Cinêd in der Revolution von Rojava

Zerge Cinêd beteiligte sich von Anfang an an der Revolution und nahm an vorderster Front 2012 an den Aktionen und Kämpfen teil. Ihre Haltung machten dabei zwei Elemente aus: Selbstverteidigung und der Kampf für die Freiheit. Die Kalaschnikow in ihrer Hand war keine Waffe, sondern die Stimme ihres Schmerzes und ihrer Hoffnung. Sie war in der Lage, dem Feind in die Augen zu sehen und ihre Entschlossenheit furchtlos zu bekunden.

Der Widerstand in Kobanê bedeutete, Identität, Kultur und Hoffnung zu verteidigen. Aus diesem Grund ist Cinêd der Inbegriff der Rebellion; sie symbolisiert den Willen der Überlebenden, durch mutigen Widerstand eine Welt zu schaffen, die ihnen gehört.

Ein Leben auf den Spuren der Gefallenen

Sie sah dem grausamen Antlitz des Krieges in die Augen. Ihr Geist des Widerstands war die Saat dafür, dass heute ihre Enkelkinder auf der Grundlage ihrer Freiheitsideale und der Ideale der Gefallenen in den Reihen der YPJ und QSD kämpfen. Vier von Zerge Cinêds Kindern sind im Kampf gefallen. Zerge Cinêd starb am 21. August 2024 an den Folgen eines Herzinfarkts, nachdem ihr Sohn Ebdulqadir Bahaddîn am 19. August verstorben war. Ihr ganzes Leben lang trug sie die tiefen Spuren von Krieg und Verlusten in sich und wurde zu einem Symbol des Widerstands und der Hoffnung. Sie war nicht nur eine Mutter, sondern auch eine Frau, die das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft repräsentierte. Die Geschichte von Zerge Cinêd ist ein Denkmal, das den Schmerz der Vergangenheit spiegelt und die Hoffnung in die Zukunft weckt.

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