„Die Hauptschlagader der Revolution von Rojava pulsiert in Efrîn“

Die kurdische Frauenbewegung plant in 86 Städten in Europa, Amerika und Australien Aktivitäten zum 8. März. Songül Ömürcan erläutert im ANF-Interview die Inhalte, die dabei vermittelt werden.

Songül Ömürcan von der kurdischen Frauenbewegung berichtet gegenüber ANF von den Vorbereitungen auf den internationalen Frauenkampftag am 8. März.

Laut Songül Ömürcan finden alle Aktivitäten zum 8. März in diesem Jahr im Hinblick auf den Frauenwiderstand von Efrîn statt. Die kurdische Frauenbewegung ruft Frauen weltweit dazu auf, sich im Kampf gegen den globalen Kapitalismus zu vereinen und eine gemeinsame Front zu bilden.

Wir werden Sie dieses Jahr den 8. März begehen?

Den diesjährigen 8. März bereiten wir im Kontext der aufgrund der türkischen Militärinvasion gegründeten Frauenplattformen zur Verteidigung von Efrîn vor. In diesen Plattformen haben sich verschiedene Frauenorganisationen und Frauen aus zivilgesellschaftlichen Einrichtungen zusammengeschlossen. Die gemeinsame Parole dieser Plattformen lautet: „Efrîn verteidigen heißt die Frauenrevolution verteidigen“. In diesem Sinne wurden gemeinsame Flugblätter und Plakate erstellt. Es gibt auch eine Erklärung der kurdischen Frauenbewegung, in der darauf aufmerksam gemacht wird, dass die USA in den 2000er Jahren mit ihren Angriffen auf Afghanistan und Irak begonnen haben, um den Kapitalismus aus der Krise zu holen. Weiterhin geht es um den nordafrikanische Frühling und seinen Widerhall in Rojava, aber auch um die Angriffe auf Efrîn sowie die patriarchale und sexistische Politik, die sich im Mittleren Osten wie an vielen Orten der Welt deutlich manifestiert. Es geht um die Frage, wie gemeinsam mit den Frauen, die sich im Mittleren Osten gegen die patriarchale Mentalität erheben, eine Widerstandsfront aufgebaut und eine globale Demokratie entwickelt werden kann. Die Angriffe auf das demokratisch-konföderale System, das in autonomer Selbstverwaltung in Rojava und im Mittleren Osten unter Führung der Frauen aufgebaut worden ist, richten sich gegen eine Ideologie und ein bestimmtes Paradigma. Viele Frauenorganisationen haben diese Erklärung unterzeichnet. Auf dieser Grundlage zielen wir darauf ab, in der kommenden Zeit eine eigene Selbstorganisierung von Frauen aufzubauen. Es soll ein gemeinsames Programm geben, um gegen die aggressive Politik, gegen die Besatzung und den Kolonialismus und gegen das sexistisch-patriarchale System vereint vorgehen zu können. Wir planen dafür eine Frauenkonferenz.

Ist die Ankündigung dieser Konferenz eine Willensbekundung oder gibt es schon konkrete Vorbereitungen?

Mit den Vorbereitungen zum 8. März haben auch die Vorbereitungen zu dieser Konferenz begonnen. Es wurde bereits ein passender Ort gefunden und sie sollte möglichst bald stattfinden. Aufgrund der Angriffe auf Efrîn wurde der Termin jedoch auf September verschoben. Aus vielen Orten auf der ganzen Welt sind dazu Frauenorganisationen eingeladen worden. Gleichzeitig werden bekannte Persönlichkeiten aus verschiedenen Bereichen, die gegen das patriarchale System kämpfen, individuell eingeladen. Wir planen eine internationale Konferenz für ungefähr 250 bis 300 Personen. Auch wenn wir mit manchen Frauenorganisationen und Aktivistinnen vielleicht nicht alle Ansichten teilen, so steht uns doch eine patriarchale, monistische Mentalität gegenüber und das ist ein wichtiger Grund, um zusammen zu kämpfen. Das Anwachsen der politischen Rechten stellt vor allem auch einen Angriff auf die Rechte der Frauen dar. Am meisten werden die Frauen ihrer Rechte beraubt. Im Kampf um Freiheit und Gleichheit sind die Stimmen von Frauen hingegen am stärksten. Wir bereiten diese Konferenz vor, um eine Organisierung zu schaffen und ein Programm mit dem Ziel zu entwickeln, die Gesellschaft wieder für Werte von Freiheit und Gleichheit zu gewinnen, damit Frauen ihre Vorreiterinnen-Rolle in diesem Kampf spielen und ihre Kämpfe sichtbarer werden.

Was haben Sie für ein Programm für den 8. März geplant?

Unsere Aktivitäten zum 8. März haben schon am 3. März begonnen. Sie werden bis zum 12. März andauern. Es finden in Europa, Kanada und Australien in 86 Städten Demonstrationen, Kundgebungen, Seminare und Workshops statt. Es gibt Aktionen von Griechenland bis Zypern, von Kanada bis nach Europa und Australien. Allein in Deutschland finden in 48 Städten Aktivitäten der kurdischen Frauenbewegung statt. Das ist ohne Zweifel wichtig. Es ist wichtig, dass überall dort, wo kurdische Frauen leben, Aktionen und Aktivitäten stattfinden. Ebenso wichtig ist, dass die Aktionen gemeinsam mit Frauen anderer Herkunft und Organisierungsform stattfinden. Die Aktionen werden zum Teil von den genannten Frauenplattformen vorbereitet, zum Teil auf der Basis lokaler Initiativen kurdischer Frauen.

Und am 18. März findet eine nationale Frauenversammlung statt?

Ja, in Europa wird eine nationale Frauenversammlung mit Teilnehmerinnen aus allen vier Teilen Kurdistans stattfinden. Wir haben eine wichtige Arbeit begonnen, um sowohl die demokratische, als auch die nationale Einheit kurdischer Frauen zu stärken. Bei den Aktionen zum 8. März wird sich die kurdische Frauenbewegung präsentieren und die inhaltliche und organisatorische Gemeinsamkeit, die wir anstreben, wird sich in einer konkreten Aktion manifestieren. Für die kurdischen Frauen steht natürlich die Solidarität mit Efrîn im Vordergrund.

Wenn wir die vergangenen Jahre vergleichen, ist es dann möglich zu sagen, dass der kurdische Frauenkampf universeller geworden ist und eine breitere Wirkung entfalten konnte?

Mit Sicherheit können wir sagen, dass er stärker geworden ist. Als kurdische Frauenbewegung befinden wir uns auf jeden Fall an einem guten Ausgangspunkt, um international gemeinsame Bündnisse zu bilden und gemeinsame Aktionen zu entwickeln. Das ist natürlich nicht genug. Mit der Herausbildung einer Alternative durch die Frauenbefreiungsideologie und die Jineoloji hat ein wichtiger Aufbruch stattgefunden. Es geht um Antworten auf die Fragen: „Wie können ein freies Leben, ein freies Individuum und freie Beziehungen zwischen Frauen und Männern? Mit was für einem System kann dies realisiert werden?“. In diesem Sinne geht es nicht alleine um Frauenbefreiung. Es wurde eine Perspektive geschaffen, die sich nicht alleine auf ein freies und gleichberechtigtes Leben von Frauen fokussiert, sondern gleichzeitig eine gesamtgesellschaftliche Veränderung anstrebt. In der aktuellen feministischen Bewegung hat es eine Stagnation gegeben. Ohne Zweifel ist wichtige Arbeit geleistet worden, aber es ist eben auch wahr, dass diese stagnierten. Das liegt nicht nur daran, dass die Kämpfe häufig nur auf Frauen fokussiert waren, sondern vor allem auch daran, dass die Massen nicht eingebunden waren. Die kurdische Frauenbewegung hat mit den Perspektiven Abdullah Öcalans, der Philosophie der Frauenbefreiung, dem demokratisch-ökologischen und frauenbefreienden Paradigma einen neuen Aufbruch erwirkt. Zusammen mit diesem Aufbruch wurde das Bewusstsein unter Frauen geschaffen, dass Frauen beim Aufbau eines Systems, das ein staatszentriertes Denken, Fundamentalismus, Militarismus, Nationalismus und Sexismus ablehnt und ein Zusammenleben der unterschiedlichen ethnischen, kulturellen und religiösen Identitäten garantiert, insgesamt eine entscheidende, eigene Rolle zukommt. Die Frauenkämpfe auf der ganzen Welt sehen das auch als ein wichtiges Modell an. Es löst Freude und Hoffnung aus. Dadurch wurde ein neuer Schwung, eine neue Dynamik gewonnen.

Hat die Jineoloji Ihnen die Beziehungen zu den anderen Frauenorganisationen erleichtert?

Auf jeden Fall.

Gibt es dennoch problematische oder schwierig zu vermittelnde Punkte?

Es gibt immer wieder einen positiven Blick auf den Kapitalismus. Der Ausgangspunkt vieler feministischer Bewegungen ist Europa oder Amerika. Daher beeinflusst diese positive Perspektive viele Dinge. So haben sich manche Frauenbewegungen im System eingerichtet, ohne es zu merken. Sie bemerken auch nicht die Einflüsse des Liberalismus und haben in diesem Kampf weder die Klassenfrage noch die Geschlechterfrage wirklich ernsthaft herausarbeiten können. In diesem Sinne haben wir Hindernisse erlebt, uns einem konkreten Kampf gegen den zentralistischen Staat, aus dem das patriarchal-kapitalistischen System seine Kraft zieht, zu widmen. Deshalb verstehen diejenigen, die aus diesem System heraus wollen, unsere ideologische Haltung besser und erfassen unsere Perspektive viel schneller. Die liberalen Kräfte, auch wenn sie sagen, die Frauen sollen gleich sein, die Löhne sollen gleich hoch sein, auf der Straße soll Gleichheit herrschen, finden unsere Haltung manchmal zu radikal. Das ist eine Frage des Kampfes, der Bildung und des Bewusstseins. Wir unterscheiden nicht zwischen Frauen. Wir sagen nicht, „die sind zu liberal“ oder „die sind zu radikal“. Wir wollen alle Völker und alle Frauen erreichen. Wir nähern uns mit der Frage an, was für ein Leben gewünscht wird, wie ein gemeinsamer Kampf geführt werden kann und wie sich Freiheit und Gleichheit im Leben konkretisieren lassen. Wir tun dies, indem wir es im täglichen Leben vorleben. Die Jineoloji schließt sowieso das Leben als Ganzes ein, die detaillierte Lebensplanung ebenso wie das Erleben der Freiheit im Moment.

Wenn wir von der Beobachtung ausgehen, dass die Frauenfrage universell ist, welche Vorteile sieht die kurdische Frauenbewegung in einer globalen Organisierung?

Ja, die Frauenfrage ist universell. Daher ist es sehr realistisch, dass Frauen Grenzen und Unterschiedlichkeiten überwinden und sich finden. Die Frauenmorde in Lateinamerika zum Beispiel finden auch im Mittleren Osten und an anderen Orten statt. Oder die sexuellen Übergriffe und Vergewaltigungen in Asien finden auch in den USA statt. Das haben jetzt gerade viele Künstlerinnen offen dargelegt. Und auch die Morde unter dem Mantel des Glaubens, seien es Organisationen wie der IS, Boko Haram oder al-Qaida, die Herabwürdigung der Frau zu einer Sklavin, die Erniedrigung findet auf verschiedene Weisen in vielen Regionen statt. Das patriarchale System, das sich in Gewalt, Faschismus, Nationalismus manifestiert, lässt dies insbesondere Frauen spüren. In Europa dürfen Frauen an manchen Orten nicht abtreiben. Man hält sich da am Wort des Papstes fest. Viele Frauen können deshalb ihr Leben verlieren. Den Frauen wird das Recht geraubt, über ihren eigenen Körper zu bestimmen. Das ist in Europa so, das ist auch an anderen Orten auf der Welt so. Daher ist es notwendig, sich an all diesen Punkten zu vereinen. Die Angriffe des globalen Kapitalismus und des patriarchalen Systems finden schließlich ebenfalls vereint statt. Und natürlich muss darauf hingewiesen werden, dass der erste gesellschaftliche Widerspruch mit der Unterdrückung der Frau losging, dass Sklaverei und Kolonialismus mit der Herrschaft über die Frau begonnen hat. Über die Kolonialisierung und Versklavung von Frauen wurden Sklaverei und Kolonialismus verbreitet. Sobald Frauen dieser Widerspruch bewusst ist, ist es gar nicht möglich, nicht zu kämpfen. So deutlich sichtbar die existierende Frauenfrage ist, so möglich ist es auch, sich im Sinne einer Lösung zu finden und zu vereinen.

Wie sehen Sie die Rolle der kurdischen Frauen im Kampf gegen den globalen Kapitalismus?

Es gibt kein einziges Fleckchen Land mehr, in das der Kapitalismus nicht eingedrungen ist. Der Kapitalismus hat sich durch ein 5.000 Jahre altes staatliches System herausgebildet. Der Kapitalismus als vielleicht der letzte Vertreter dieses Systems versucht, seine Lebensdauer durch die Schaffung von Krisen und Chaos zu verlängern. Das versucht er auch mit Nationalismus, Sexismus, Fundamentalismus oder eben positivistischem Szientismus zu erreichen. In dieser Situation ist es wichtig, dass die Kräfte gegen den Kapitalismus zusammenstehen. Wenn wir von Antikapitalismus sprechen, dann meinen wir nicht den Antiamerikanismus des Irans oder Venezuelas. Wir stellen dem Kapitalismus eine dezentrale-partizipative Demokratie unter Beteiligung aller ethnischen und weltanschaulichen Identitäten gegenüber. Wir stellen dem Kapitalismus eine Lebensform entgegen, in der Völker und Kulturen auch ihre Unterschiedlichkeiten leben können. Wir nennen das Demokratischen Konföderalismus. Wir zielen darauf ab, mit demokratischen Kräften auf weltweiter Ebene zusammenzukommen und als kurdische Frauenbewegung eine aktive Rolle dabei zu spielen. Die kurdische Bewegung und die kurdische Frauenbewegung sind in allen vier Teilen Kurdistans, im Mittleren Osten und überall in Europa organisiert. Sie verfügen über ein wirklich ernstzunehmendes Potential und eine bedeutende Dynamik. Das schafft bei Menschen auf der ganzen Welt Hoffnung. Es ist kein Zufall, dass 200 Menschen als Internationalist*innen im Februar an dem langen Marsch nach Strasbourg teilgenommen haben. Von den Kanarischen Inseln bis Brasilien, aus Argentinien und aus vielen Ländern Europas sind Menschen gekommen, um an dieser Demonstration teilzunehmen. Das hat etwas mit dem Freiheitsideal zu tun. Es ist Ausdruck einer Sehnsucht nach Demokratie, Freiheit und Gleichheit. Es ist eine Haltung, die den Kapitalismus ausdrücklich zurückweist. Es ist der Wunsch der Menschen, sich gegen dieses System zu vereinen. Die kurdische Frauenbewegung kann mit ihrer Entschlossenheit und ihrer Philosophie der Freiheit in diesem Sinne eine wichtige Rolle spielen.

Wenn wir jetzt nochmal auf den Anfang zurückkommen: In Ihrer Antwort auf die erste Frage haben Sie erklärt, dass Efrîn im Zentrum ihres Programms zum 8. März steht. Der Frauenkampf von Efrîn hat für kurdische Frauen oder für Frauen im Allgemeinen welche Bedeutung?

Efrîn war von Beginn des Syrienkriegs an einer der sichersten und friedlichsten Orte. Wenn man die ethnische, religiöse und kulturelle Struktur Efrîns betrachtet, dann sieht man, dass Efrîn sehr reich ist. Dort leben Alevit*innen, Menschen aus Dersîm, aus Maraş und aus Elbistan. Es gibt dort ezidische, assyrische, aramäische, armenische und turkmenische Dörfer. Es ist also ein reiches Mosaik. Die Menschen haben als Geschwister gelebt. Aufgrund der Unterschiede gab es keine Kämpfe. Efrîn ist ein Kanton, in dem in den letzten fünf Jahren die demokratisch-autonome Selbstverwaltung vor allem auch von Frauen aufgebaut worden ist und ein dementsprechendes Leben, aber auch ein ökonomisches System sowie ein Bildungs- und Gesundheitssystem ins Leben gerufen wurden. Es ist der Ort, an dem sich auch im Vergleich mit den anderen Kantonen von Rojava die Frauen am aktivsten in das konföderale System einbringen. Frauen spielen dort insbesondere in den Bereichen Gesundheit, Ökonomie, Bildung und Selbstverteidigung eine Vorreiterrolle und haben sich in diesem Rahmen institutionalisiert. Wenn wir uns den aktuellen Krieg anschauen, dann sind die Frauen sowohl vor als auch hinter der Front aktiv. Sie sind es, die ihr Heim, ihr Land nicht verlassen. Sie haben ihre Verbundenheit mit dem Land am deutlichsten bewiesen und den höchsten Preis dafür gezahlt. Aus diesem Grund hat Efrîn für die kurdischen Frauen eine große Bedeutung. Die Hauptschlagader der Revolution von Rojava pulsiert in Efrîn.