Cansu Özdemir: „Mir ist es wichtig, nicht zu schweigen“

Cansu Özdemir, Ko-Vorsitzende der Hamburger Linksfraktion, äußert sich im ANF-Interview zu den Bundesvorstandswahlen ihrer Partei, den Wahlen in der Türkei und dem untergetauchten türkischen Spion Mehmet Fatih S.

Cansu Özdemir ist Ko-Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE in der Hamburgischen Bürgerschaft. An diesem Wochenende kandidiert sie für den Bundesvorstand ihrer Partei. Im ANF-Interview hat sie sich zu ihrer parlamentarischen und außerparlamentarischen Arbeit, dem in Hamburg verurteilten türkischen Spion Mehmet Fatih S. und den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei am 24. Juni geäußert.

Sie kandidieren auf dem Parteitag an diesem Wochenende in Leipzig für den Bundesvorstand. Was wollen Sie im Parteivorstand bewegen?

Ich möchte meine Erfahrungen und Positionen einbringen, die ich in der deutschen Linken und gleichzeitig in der kurdischen Bewegung, vor allem in der Frauenbewegung, gewonnen habe. Mir geht es darum, an der Weiterentwicklung einer solidarischen, bewegungs- und widerstandsorientierten sowie internationalistischen Linken mitwirken. Die Verteidigung der Vielfalt in Zeiten einer erstarkenden Rechten, die genau das angreift, wird eine entscheidende Auseinandersetzung der nächsten Jahre.

Seit 2011 sind Sie Abgeordnete der Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft, seit 2015 gemeinsam mit Sabine Boeddinghaus Ko-Fraktionsvorsitzende. Geben Sie dieses Amt in Hamburg auf, wenn Sie in den Bundesvorstand gewählt werden?

Nein, ich werde weiterhin in Hamburg das Amt der Ko-Vorsitzenden ausüben. Die Arbeit im Parteivorstand wird parallel laufen.

Warum haben Sie nicht für den Bundestag kandidiert?

Ich habe gemeinsam mit meiner Genossin Sabine Boeddinghaus nach einer schwierigen Phase in der Fraktion den Vorsitz übernommen. Bundespolitik, vor allem die Innen- und Außenpolitik in Bezug auf die Türkei finde ich spannend, aber ich habe mich erst einmal für meine Verantwortung in der Fraktion entschieden. Die Bundestagswahl stand vor der Tür, als ich gerade mal zwei Jahre Ko-Vorsitzende war. Außerdem macht mir Landespolitik viel Spaß, weil wir nicht nur parlamentarisch unterwegs sind, sondern auch viel außerparlamentarisch. Wir sind mit Bewegungen, Organisationen und Initiativen vernetzt. Während der G20-Proteste waren wir als parlamentarische Beobachter*innen rund um die Uhr unterwegs und konnten unsere Eindrücke und die Kritik der Menschen auf der Straße ins Parlament tragen. Ein anderes Beispiel ist die Phase des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges der Türkei auf Efrîn. Ich war fast Tag und Nacht auf den Demonstrationen und Aktionen auf der Straße und habe gleichzeitig im Parlament gemeinsam mit anderen Kolleg*innen Unterschriften für eine Resolution gesammelt. Viele Abgeordnete haben unterzeichnet und somit ihre Solidarität mit den Menschen vor Ort ausgedrückt. Die Verbindung zwischen dem Parlamentarischen und Außerparlamentarischen ist mir wichtig. Außerdem sind die täglichen Begegnungen in der Stadt lehrreich.  

Kurdische Oppositionelle leben auch in Deutschland gefährlich. In Hamburg ist ein türkischer Spion verurteilt worden, der im Auftrag des türkischen Staates Attentatspläne schmiedete und auch zu Ihnen Kontakt suchte. Anfang des Jahres ist auf den Fußballer Deniz Naki geschossen worden. Können Sie sich überhaupt frei bewegen? Was tun Sie, um sich zu schützen?

Ich habe zwei der Spione des MIT bei der Polizei in Hamburg angezeigt und Dokumente übergeben. Nun hat mir die Staatsanwaltschaft Berlin vor einigen Tagen per Brief mitgeteilt, dass der Aufenthaltsort des verurteilten Spion Mehmet Fatih S. nicht bekannt sei. Sollte mir der Aufenthaltsort bekannt sein, sollte ich diesen den Behörden melden. In beiden Fällen habe ich die Deckelung durch die Sicherheitsbehörden bzw. durch die Bundesregierung erlebt. Es gilt, die türkische Regierung nicht zu verärgern, und das heißt für die Oppositionellen in Deutschland, die Verfolgung und Gefahr bleiben weiterhin bestehen. Ich habe keine Angst, aber es entsteht ein Gefühl der Unsicherheit, so dass man eigene Vorsichtsmaßnahmen trifft. Mir ist es wichtig, nicht zu schweigen, sich nicht einschüchtern zulassen und die politische Arbeit weiterhin kritisch zu machen.

Aktuell findet in Deutschland die Stimmabgabe für die vorgezogenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 24. Juni in der Türkei statt. Sind Sie schon wählen gegangen?

Ich werde im Laufe der Woche Selahattin Demirtaş als Präsidentschaftskandidaten und die HDP als Partei wählen gehen. Wer glaubt, seine Stimme könnte nichts bewegen, der irrt sich gewaltig. Die HDP muss die Zehn-Prozent-Hürde überwinden, der Wahlkampf ist so undemokratisch wie noch nie. Der HDP wird mal wieder der Wahlkampf enorm erschwert und wir müssen wieder mit heftigen Manipulationsversuchen durch die AKP rechnen. Aus diesem Grund kommt es auf jede einzelne Stimme an. Es könnte sogar an einer einzigen Stimme liegen, ob die HDP die Hürde überwindet und somit Erdoğans Alleinherrschaft verhindert. Und außerdem: Die HDP ist die einzige Partei, die ein progressives, feministisches Programm hat und sich gegen Nationalismus und Chauvinismus einsetzt. Auf ihrer Liste kandidieren sogar Personen aus der Szene der LGTBI, das erste Mal in der Geschichte der Türkei.

Ich habe öfters als Abgeordnete die Wahlen in der Türkei beobachtet und habe jedes Mal mitbekommen, wie brutal das Militär und die Polizei gegen Mitglieder der HDP vorgegangen sind. Wir haben so oft verbrannte Stimmzettel auf den Toiletten der Wahllokale entdeckt. Ich bin mir sicher, all die Freundinnen und Freunde, die zu Unrecht in den Gefängnissen sitzen, würden 24 Stunden am Tag wahlkämpfen. Das können sie nicht, also finde ich es wichtig, ihnen gerade in Europa eine Stimme zu verleihen und den Wahlkampf für die HDP stark zu führen.