„Wenn du nur den geringsten Einwand erhebst, können sie dich töten“

Der Soziologe Halit Karahan spricht im Interview über die Schwierigkeiten zivilgesellschaftlicher Arbeit im aktuellen politischen Klima in der Türkei und Nordkurdistan und das Verfahren gegen den Migrationsverein Göçiz-Der.

Die Zivilgesellschaft in der Türkei und Nordkurdistan soll durch Repressalien mundtot gemacht werden. Die Berichte von Nichtregierungsorganisationen, die die eklatanten Rechtsverletzungen in der Türkei dokumentieren, offenbaren die Politik des AKP/MHP-Regimes. Während sich die Türkei als Aufnahmeland für Schutzsuchende präsentiert, legen sie den Finger in die Wunde der katastrophalen Lebensbedingungen von Schutzsuchenden, befassen sich mit der Staatspolitik, die den Weg zu Hassverbrechen ebnet, mit der Vertreibung von Kurdinnen und Kurden, der Situation von Gefangenen, die trotz Ablauf ihrer Haftzeit nicht entlassen werden, den Morden an Frauen und der ökologischen Zerstörung. Diese Organisationen und Akademiker:innen, die in diesem Sinne für Frieden und Gerechtigkeit engagiert sind, befinden sich im Fokus der Repression. So auch der Verein Göçiz-Der, der sich mit der Situation von Flüchtlingen und Binnenflüchtlingen auseinandersetzt. Im Juni 2022 wurden bei einer Großrazzia gegen den Verein 22 Mitglieder wegen angeblicher „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ festgenommen und 16 von ihnen inhaftiert. Das Verfahren gegen sie läuft. Im Gespräch mit der Tageszeitung Özgür Politika äußert sich der in diesem Verfahren angeklagte Soziologe Halit Karahan über die Situation der Zivilgesellschaft in der Türkei und das Verfahren.

Forschung zu Kurdistan ist ein repressionsbelastetes Tabu

Ihre Arbeiten befassen sich im Allgemeinen mit Urbanisierung, Migration, räumlichem und sozialem Wandel. Jetzt stehen Sie wegen dieser Arbeit vor Gericht. Wie wurde die Soziologie zum Gegenstand der Justiz?

Stadt-, Raum- und Sozialstudien sind in der Türkei auf akademischer Ebene relativ neu. Es liegt auf der Hand, dass einige Studienregionen in der akademischen Welt vernachlässigt wurden, und das gilt insbesondere für die kurdische Region. Es ist in der Tat interessant, dass trotz des radikalen sozialen und räumlichen Wandels in der kurdischen Region, dies kein Thema in der Wissenschaft ist. Bei der Suche im nationalen Dissertationsforschungs- und YÖK-Zentralsystem finden sich räumliche Studien über Sarajevo, Palästina und viele ähnliche Orte. Es gibt jedoch so gut wie keine Forschung über die kurdische Region in der Türkei, obwohl dort radikale räumliche soziale Transformationen stattfinden. Bei den Wenigen, die es gibt, wurden einige als riskant erachtete Punkte außen vor gelassen. Da ich im Rahmen meines Studiums noch kein Buch zu diesem Thema veröffentlicht habe, plane ich, dies in Zukunft zu tun. Ich lege Wert auf Raumstudien. Sobald man versucht, diesen Prozess zu verstehen, muss man die Intervention des Staates als Akteur in Raum und Gesellschaft untersuchen. Schon bei der Recherche sollte man sich darüber im Klaren sein, dass man sich auf riskantem Terrain bewegt, das war mir bewusst. Es gibt solche Risiken, wenn man wirklich eine wissenschaftliche Studie durchführen will, kann man eine Beschäftigung mit den geplanten Eingriffen des Staates nicht vermeiden. Ich habe das vorausgesehen, es ist riskant, schließlich besteht das gleiche Risiko auch, wenn man eine Studie über Stämme durchführt. In den 1970er Jahren gab es einen durchgesickerten Bericht über Stämme; einige Stämme und ihre Führungspersönlichkeit wurden in diesen Berichten als solche bezeichnet. Ich hatte Zugang zu diesem Bericht und ich habe diesen in meiner Bibliografie angeführt. Das wurde zum Gegenstand der Anklageschrift gemacht. Ich hatte Zugang zu dem Buch das über die Stämme berichtete und vom Staat, wahrscheinlich vom Geheimdienst, erstellt wurde und in dem Stämme stigmatisiert wurden. Der gleiche Bericht wurde in der Zeitschrift Doğru 2000 veröffentlicht. Sich dessen bewusst zu sein oder sogar darüber informiert zu sein, wird als gefährlich angesehen.

Selbst das Zitieren aus einem öffentlich verfügbaren Buch ist eine Straftat“

Der Staat hat also eigene Informationen zum Gegenstand eines Verfahrens gemacht?

Genau diese Information ist in den offiziellen Bibliotheken des Staates verfügbar; es handelt sich um einen Bericht, in dem verschiedene Stammesführer mit den Namen von Familien und verschiedenen Stämmen gekennzeichnet wurden. Sie hatten die Stämme als Unterstützer des Şex-Said-Aufstands, neutral, staatsfreundlich oder staatsfeindlich eingestuft. Ich habe diesen Bericht in der Bibliothek des Zentrums für Islamische Studien gefunden, und er ist auch im Internet verfügbar. Es wurde auch von Kaynak Publications und der Zeitschrift 2000'e Doğru veröffentlicht. Ich habe mir einige Seiten notiert, um sie in meiner Diplomarbeit zu verwenden. Sie haben sogar das mit in die Anklage aufgenommen. Allerdings gibt es diesen Bericht in der Staatsbibliothek. Selbst das Mitschreiben aus einem offiziellen Buch ist eine Straftat. Hier gibt es also einen Reflex. Neben den Angriffen auf die akademischen Studien gab es auch Verleumdungen. Es gab kein Verbrechen, es gab offensichtlich eine Anweisung, uns zu verhaften. Man fühlte sich von unserer Arbeit gestört.

Die öffentliche Gewalt wird nach Gutdünken eingesetzt, um Forschung zu verhindern“

Man will nicht, dass Informationen auf wissenschaftliche Art und Weise produziert werden. Es gibt eine Gruppe von Leuten, die sich daran stören, dass Menschen ins Feld zu gehen, Daten sammeln und darüber berichten. Und diese Leute sehen kein Problem darin, die öffentliche Gewalt nach ihrem Gutdünken einzusetzen, um die Durchführung dieser Studien zu verhindern. Wir sind mit einem solchen Ansatz konfrontiert. Es handelt sich definitiv nicht um ein Verfahren auf der Grundlage des Gesetzes. Für die Sammlung von Beweisen gilt das Gleiche. Das gilt auch für den Gerichtsprozess, die Inhaftierung und der Gerichtsprozess sind der Beweis dafür. Manche Menschen können alle Mittel des Staates für ihre eigenen Interessen nutzen, ohne sich an das Gesetz zu halten.

Man will uns einschüchtern und isolieren“

Wurden Sie während ihrer Festnahme gefoltert oder misshandelt?

Natürlich. Schon wie wir aus unseren Wohnungen gezerrt wurden, war eine Art der Folter und einer Rechtsverletzung. Das was wir tun ist doch vollkommen klar. Ich bin an der Universität, in der Bibliothek oder im Verein. Wenn man uns vorgeladen hätte, wären alle dorthin gegangen. Niemand von uns flüchtet vor dem Gesetz, niemand tut etwas im Geheimen. Es ist klar, was wir tun, die Berichte, die wir veröffentlichen, sind klar. Es ist die Praxis von Verbrechern, wenn man die Tür um fünf Uhr morgens mit dem Rammbock einschlägt. Sie haben die Tür aufgebrochen, obwohl ich gesagt habe, ich würde sie öffnen. Es ist offensichtlich, dass das ein vorbereitetes Szenario war und ihnen gesagt wurde, wie sie die Tür aufbrechen sollten. Die Operation wurde mit dem Ziel durchgeführt, Terror mit Gewalt zu verbreiten. Obwohl ich darauf bestand, die Tür zu öffnen, brachen sie die Tür auf. Die ganze Nachbarschaft wachte auf. Das Ziel ist klar: Man will uns wegen unserer Arbeit in Angst und Schrecken versetzen, uns von unserer Arbeit ablenken und uns isolieren. Auch die Nachbarschaft wurde ins Visier genommen. Sie wurde beleidigt. Die Polizisten riefen „Der Staat bin ich“. Sie betraten die Wohnungen mit Schuhen mit den Worten „Haltet den Mund, gehen wir etwa zur Waschung“. Sie hielten sich wirklich für den Staat. Sie wurden so ausgebildet, dass sie glauben, sie hätten das Recht, so gegen uns vorzugehen. Sie kümmerten sich nicht um Rechte wie Privatsphäre, Unverletzlichkeit der Wohnung, persönliche Unversehrtheit. Es war bereits offensichtlich, dass sie keine solchen Bedenken hatten. Sie legten die Hand an den Abzug und hatten keine Bedenken, unser Leben aufs Spiel zu setzen. Wenn du auch nur den geringsten Einwand erhebst, können sie dich töten.

Genozidbenennung wird kriminalisiert

Im Verfahrens gegen Göçiz-Der, in dem Sie ebenfalls angeklagt sind, wurde Ihre Arbeit zu Themen wie „Dorfverbrennungen, Zwangsumsiedlungen und der Völkermord an den Armeniern“ als Straftat betrachtet und zum Gegenstand des Verfahrens gemacht. Was möchten Sie über den Zusammenhang zwischen diesem Thema und der staatlichen Politik sagen?

Es ist in der Tat eine Qual, frei zu recherchieren und über bestimmte Themen zu sprechen, denn es bedeutet, ein hohes Risiko einzugehen. Die Arbeit von Göçiz-Der in dieser Hinsicht zieht unweigerlich den Zorn einiger Leute auf sich. Man wird für die Arbeit bestraft. In der Literatur gibt es Tausende von Veröffentlichungen, Artikeln und Büchern zu diesem Thema. Manche nennen es [den Armeniergenozid] Deportation, andere nennen es Völkermord. Die Armenier zum Beispiel nennen es Ageth – die große Katastrophe. In unserer Region in Mêrdîn, Amed (tr. Diyarbakır), Riha (tr. Urfa) und bei der ezidischen Bevölkerung wird das als Ferman (Edikt) bezeichnet. Die Assyrer:innen nennen es Seyfo und die Rum-Griechen nennen es die Katastrophe von Kleinasien. In einigen Artikeln und Büchern werden diese Ausdrücke verwendet. Diese Veröffentlichungen sind in staatlichen Bibliotheken und Universitätsbibliotheken erhältlich. Göçiz-Der hat diese Begriffe weder entwickelt noch erfunden. Er stützt seine wissenschaftliche Forschung auf Fakten und produziert Informationen, die auf Fakten beruhen. Man mag anderer Meinung sein, man mag es nicht mögen. Die internationale Gesetzgebung gibt jedoch keiner Behörde in irgendeinem Staat das Recht, in die Produktion wissenschaftlicher Erkenntnisse einzugreifen und sie auf diese Weise zu bestrafen; es handelt sich um garantierte Rechte. Aber wir sind uns bewusst, wie sehr das Recht auf wissenschaftliches Arbeiten garantiert ist. Die Freiheit, Ideen zu äußern und zu verbreiten, kann von solchen Gesetzesbrechern immer noch mit Strafen belegt werden. Aber wir betrachten dies nicht als Verbrechen.

Nur noch wenige Menschen, die Repression in Kauf nehmen, führen die Arbeit weiter“

In den Städten Kurdistans sind Prozesse gegen Nichtregierungsorganisationen und insbesondere gegen Menschen, die sich für die Menschenrechte einsetzen, anhängig. Wie wirkt sich diese Situation auf die Bereiche aus, in denen soziale Arbeit geleistet wird?

Da es sich um ein riskantes Gebiet handelt, braucht es viel Mut, um über einige Themen in der Türkei zu sprechen. In der Türkei gibt es nur eine Handvoll NGOs, die in diesen gefährlichen Gebieten arbeiten. So sind beispielsweise die Arbeitsbereiche zu armenischen, kurdischen und alevitischen Themen risikobehaftet. Die Durchführung wissenschaftlicher Studien oder das Eintreten für eine Sache bedeutet auch, dass man sich der Gewalt des Staates und der Exekutive sowie verschiedenen Strafmechanismen auseinandersetzen muss. Diese vorhersehbaren Handlungen zielen darauf ab, die Arbeit zu stören. In der Anklageschrift heißt es, dass der Staat der Republik Türkei international in eine schwierige Lage geraten sei. Göçiz-Der hat jedoch darüber geschrieben, was vor Ort geschehen ist. Die Berichte der Vereinten Nationen und von Amnesty International zu denselben Themen stehen nicht im Widerspruch zu unseren Ausführungen. Sie haben uns wahrscheinlich im Visier. Sie schüchterten andere Nichtregierungsorganisationen ein, die über uns an diesen Themen arbeiten. Natürlich wird es Auswirkungen auf die NGOs haben. Wir befinden uns in einer außergewöhnlichen Phase, leider gibt es überall in der Türkei kriminelle Organisationen. Menschen können auf der Straße getötet werden, wir erleben eine Zeit, in dem das Gefühl der Menschen, in Sicherheit zu leben, beschädigt wird. Es herrscht eine große Wirtschaftskrise und eine Angst, die die Menschen einschüchtern kann. Die Zivilgesellschaft in der Türkei ist bereits schwach, und die Zahl der in den genannten Bereichen tätigen zivilgesellschaftlichen Akteure ist ebenfalls gering. Wenn sie festgenommen werden und ein Gerichtsverfahren gegen sie läuft, wird dieses Feld natürlich geschwächt. So wurden beispielsweise 22 Mitglieder von Göçiz-Der festgenommen. Es bleiben keine Mitarbeiter:innen mehr. Wie viele Personen können in einer Vereinigung aktiv sein? Alle, die Feldforschung betrieben haben, Soziolog:innen, Psycholog:innen, Sozialarbeiter:innen, Jurist:innen oder die Leitung des Vereins, wurden festgenommen. Sie wurden alle weggebracht, und der Verein konnte keine Aktivitäten mehr durchführen. Damit sollten sowohl wir als auch andere Verbände eingeschüchtert werden.

Forschung zur kurdischen Frage hat erheblich nachgelassen“

Welche Themen werden Ihrer Meinung nach besonders wenig untersucht? Welchen Einfluss hat das politische Klima darauf?

Wir sind in eine Phase eingetreten, in der die Arbeit zur kurdischen Frage erheblich nachgelassen hat. Derzeit ist die überwiegende Mehrheit der zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Flüchtlingsarbeit tätig. Dies ist eine Situation, die Kritik verdient. Zweifellos können wir unsere Augen nicht vor den Problemen der Schutzsuchenden verschließen, die in die Türkei gekommen sind, denn sie sind mit einer Welle rassistischen Hasses konfrontiert. Eines der Hauptprobleme ist jedoch die kurdische Frage, und es gibt nur sehr wenige zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich mit diesem Thema befassen. Leider gibt es, wie ich gerade erwähnt habe, nur eine handvoll Menschen, die das Risiko eingehen, verhaftet, bestraft und vor Gericht gestellt zu werden. Sie machen die ganze Arbeit.

Die Anklage ist reine Fiktion“

Was möchten Sie abschließend über den Verlauf Ihres Prozesses sagen?

Ich habe die Anklageschrift von Anfang bis Ende gelesen. Wie meine Freund:innen vor Gericht feststellten, ist die ganze Anklageschrift eine Fiktion. In allen Arbeitsbereichen wurden „Beweise“ gesammelt, die nichts mit der vorgeworfenen Straftat zu tun haben. Die Beziehungen zu Verwandten wurden kriminalisiert, kurz gesagt, die Region, aus der wir kommen, die Gesellschaft, in der wir leben, unsere Beziehungen und Praktiken wurden allesamt kriminalisiert. Aus diesem Grund bezeichne ich diese Anklage auch als Fiktion. Wir sind die Angeklagten dieser Fiktion. Wenn es auch nur ein Fünkchen Recht gibt, sollten meiner Meinung nach alle freigesprochen werden. Andernfalls werden wir die Angelegenheit weiterverfolgen, egal wohin sie führt. Wenn Mechanismen wie die EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention) in Anspruch genommen werden müssen, werden wir sie auch nutzen. Wir werden diese Untersuchungen erneut durchführen. Wir werden unsere sozialen Beziehungen weiter erhalten. Im Jahr 2012 war ich als Student in Deutschland und meine Familie schickte mir Geld, denn damals gab es noch keinen Göçiz-Der. Dies wurde ebenfalls als Straftat betrachtet. Es wurde einfach behauptet, mein Schwager säße wegen eines PKK-Verfahrens im Gefängnis, obwohl das gar nicht stimmte. Es gibt auch den Vorwurf, dass ich Geld von Göçiz-Der genommen und an ihn geschickt habe. Wenn sie die staatliche Datenbank überprüfen würden, würden sie feststellen, dass das Urteil, wegen dem mein Schwager im Gefängnis sitzt, nichts mit der PKK zu tun hat. Die Anklageschrift ist voll von absichtlichen und böswilligen Verzerrungen.