Die Demokratische Partei der Völker (HDP) steht im Kreuzfeuer der türkischen Repression. Am Donnerstag vergangener Woche drang ein schwer bewaffneter türkischer Faschist in das Gebäude des Provinzverbands der HDP von Izmir ein und ermordete Deniz Poyraz. Am Montag hat der Verfassungsgerichtshof die Anklageschrift im Verbotsverfahrens gegen die 2012 gegründete HDP angenommen und es werden täglich weitere Mitglieder festgenommen und verhaftet. Der Verbotsantrag beinhaltet auch ein politisches Betätigungsverbot für 451 Polikerinnen und Politiker für einen Zeitraum von fünf Jahren. Allein am heutigen Dienstag wurden über 100 Razzien gegen die kurdische und demokratische Opposition durchgeführt. Die HDP-Abgeordneten Tayyip Temel und Murat Sarısaç haben sich gegenüber ANF zur aktuellen Situation geäußert.
Temel meint, es entbehre nicht einer inneren Logik, dass das Verbotsverfahren direkt nach der Ermordung von Deniz Poyraz auf die Tagesordnung kam. Bereits frühere türkische Regierungen hätten im Kampf gegen die kurdische Freiheitsbewegung auf Parteiverbote gesetzt, seien damit jedoch gescheitert.
„Abgesehen von den Komplizen sind alle mit der HDP“
Zur Entscheidung der Verfahrensaufnahme sagt Temel: „Wir stehen in gewisser Weise vor einer überarbeiteten Fassung der Anklageschrift.“ Er bezieht sich dabei auf einen vorherigen vom Verfassungsgericht wegen gravierender Fehler abgewiesenen Verbotsantrag und stellt fest, dass es keinen größeren Unterschied zwischen beiden Versionen gebe. Weiterhin beruhten die gravierenden Anklagepunkte auf „fabrizierten“ Aussagen geheimer Zeug:innen. Temel betont: „Hunderte Anwältinnen und Anwälte stehen sowohl zur Verteidigung als auch zur Solidarität mit der HDP bereit. Alle Kreise mit Ausnahme der AKP, der MHP und ihrer Profiteure haben ihre Bereitschaft bekundet, die HDP zu verteidigen und sich zu solidarisieren.“
„Hinter der HDP-Politik der AKP steht die Zukunft der Regierung“
Temel fährt fort: „Der Mord von Izmir, der Versuch, Provokateure vor unseren Parteizentralen zu versammeln, um einen Hassdiskurs gegen die HDP zu schüren, das Schmierentheater im sogenannten Kobanê-Verfahren und dessen Aufnahme in die Anklageschrift im Verbotsverfahren gegen die HDP sind alles Elemente eines politisch gelenkten und systematischen Vorgehens. Wir wissen jedoch, dass das Regime in großen Schwierigkeiten steckt und verbraucht ist. Mit seinem Vorgehen gegen die HDP will es die Agenda ändern, um von dem eigenen ans Licht gekommenen Schmutz abzulenken. Das kann man auf jeden Fall in Bezug auf das Timing sagen. Die Regierung will ihre schmutzigen Verstrickungen, ihre Morde, die tiefgreifenden Beziehungen des Staates zur organisierten Kriminalität und den Mafiabanden hinter der Verhinderung einer Lösung der kurdischen Frage zu verbergen. Dazu dient ihr die Hetze gegen die Kurden. Das Timing des Mordes von Izmir und des Verbotsverfahrens ist logisch und es ist sicher, dass der Mord von Izmir auf die demokratischen Kräfte in der Türkei abzielte. Den demokratischen Kräften in der Türkei, die sich an die Seite der HDP stellen, sollte mit dem Mord eine Botschaft übermittelt werden. Aber das hat nicht funktioniert.“
„Politisch kommen sie gegen die HDP nicht an“
Der HDP-Abgeordnete Murat Sarısaç bewertet das Verbotsverfahren als politischen Prozess und weist darauf hin, dass sich zwischen der ersten Anklageschrift, die abgewiesen wurde, und der aktuellen Anklageschrift nichts geändert habe. Der MHP-Vorsitzende Devlet Bahçeli als auch „andere Bürokraten“ hätten die Mitglieder des Verfassungsgerichts bedroht. Der Abgeordnete erklärt weiter: „Das Verfahren basiert vollständig auf der Feindschaft gegenüber den Kurden. Es steht ein Konzept dahinter. Sie werden mit der HDP politisch nicht fertig und meinen, sie könnten ihre eigene Zukunft durch ein Verbot der HDP meistern.“
Laut Sarısaç hat die AKP ihre Legitimität in den Augen der Bevölkerung verloren und setzt auf ein HDP-Verbot, anstatt politische Wege zu versuchen. Dieses Vorgehen sei jedoch „schon oft in der Türkei versucht worden“, so der Abgeordnete und fährt fort: „Der einzige Weg, der noch nicht versucht wurde, sind Demokratie und Frieden. Solange dieser Weg nicht ausprobiert wird, können die Probleme nicht überwunden werden.“
„Wir bekommen unsere Kraft vom Volk“
Die Frage nach der Vorgehen der HDP angesichts des Schließungsverfahrens beantwortet Sarısaç wie folgt: „Wir haben den legalen Kampf von den unseren Vorgängern gelernt und setzen ihn fort. Wir werden nicht weniger Widerstand leisten als sie. Wer glaubt, sich durch das Verbot einer Partei retten zu können, wird der Verlierer sein. Das sind nicht meine Worte, es ist die politische Philosophie, die uns unsere Kampftradition hinterlassen hat. Jeder Satz, den wir heute bilden, beruht auf dieser Philosophie, und sie wächst jeden Tag weiter. Soviel Repression auch kommen mag, wir ziehen unsere Kraft aus unseren Wählerinnen und Wählern. Dieses Volk hat große Opfer gebracht. An jetzigen Punkt geht es nicht um politische Figuren, sondern um die Kraft des Volkes. Unsere Kraft ist das Volk und das versteht das Regime nicht. Es verfolgt eine auf einem Führer und auf Konzerne gestützte Politik und versucht sich so auf den Beinen zu halten. Wir beziehen unsere Kraft nicht aus Konzernen, nicht aus der Justiz, wir stützen uns alleine darauf, einen gerechtfertigten Kampf zu führen und von den Menschen gewählt worden zu sein, die diesen Kampf verteidigen.“
HDP richtet ein Rechtsbüro ein
Es wird erwartet, dass der Verfassungsgerichtshof das Verfahren schnellsten abschließen will. Ein Urteil könnte schon in sechs Monaten vorliegen. Auch wenn die HDP verboten wird, bleibt ihr politischer Einfluss erhalten. Es werden im Moment verschiedene Strategien diskutiert, zum Beispiel eine neue Partei zu gründen, zu einer bereits gegründeten Partei überzutreten, die Partei aufzulösen und einen Massenübertritt zu einer anderen Partei durchzuführen und so das Verfahren zu beenden und unabhängig bei späteren Wahlen anzutreten.
Der Vorstand der HDP hat umfassende Vorbereitungen zur „Verteidigung der Partei“ getroffen. In diesem Rahmen wurde die Rechtskommission innerhalb der Partei gestärkt und beschlossen, ein Rechtsbüro, das aus bekannten Jurist:innen besteht, einzurichten.
Nachdem die Anklageschrift die HDP erreicht hat, soll mit den Ko-Vorsitzenden Mithat Sancar und Pervin Buldan ein Fahrplan für den Prozess und die Verteidigung festgelegt werden. Anschließend werden Anwält:innen die Verteidigung gegen die Anklage vorbereiten.