Im vergangenen Jahr begann der türkische Staat eine neue Offensive gegen Rojava. Diesmal handelte es sich um keinen Bodenangriff, sondern um eine systematische Zerstörung vor allem ziviler Infrastruktur. Dutzende Zivilist:innen starben bei den Angriffen, unzählige wurden verletzt, tausende Ortschaften von der Versorgung abgeschnitten. Der Angriff folgte auf eine erfolgreiche Guerillaaktion gegen das Innenministerium in Ankara. Die Guerilla hat weder territoriale noch institutionelle Verbindungen zu Rojava. Das Regime in Ankara spann jedoch schnell dieses Narrativ, um die Menschen in Rojava in eine Art Geiselhaft zu nehmen und die eigene Expansionspolitik als „Antiterroroperation“ zu legitimieren.
Türkischer Außenminister kündigte massiven Angriff auf zivile Infrastruktur offen an
Vor Beginn der Angriffswelle hatte der türkische Außenminister Hakan Fidan am 5. Oktober angekündigt: „Alle Infrastrukturen und Energieanlagen, die der PKK und YPG im Irak und in Syrien gehören, sind von nun an legitime Ziele unserer Sicherheitskräfte.“
Die Türkei versucht immer wieder zu konstruieren, die Verwaltung von Nord- und Ostsyrien sei PKK und YPG, daher ist diese Äußerung nicht anders als eine offene Ankündigung eines gezielten Angriffs auf zivile Infrastrukturen zu deuten. Solche Angriffe sind Kriegsverbrechen, sollten sie vorsätzlich ausgeführt werden. Das stellten die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages in einem von der Abgeordnete Gökay Akbulut (DIE LINKE.) in Auftrag gegebenen Gutachten zur völkerrechtlichen Perspektive auf die türkischen Militäroperationen in Nord- und Ostsyrien fest.
Kriegsverbrechen gegen medizinische Infrastruktur – Beweislast liegt bei Täterstaat
Die Wissenschaftlichen Dienste sehen insbesondere in der Zerstörung der Miştenûr-Klinik, auch bekannt als Kobane Medical Center, das 500 Patient:innen behandelte, ein mögliches Kriegsverbrechen. Gleichzeitig wurden medizinische Einrichtungen, Dialysezentren und andere Einrichtungen zerstört, so dass Ende Dezember bereits der erste Dialyse-Patient aufgrund ausbleibender Behandlung verstarb. Die Wissenschaftlichen Dienste stellen fest: „Die Zerstörung des Kobane Medical Center könnte einen Verstoß gegen Art. 8 Abs. 2 lit. e) iv) IStGH-Statut darstellen. Vorsätzliche Angriffe auf Krankenhäuser und Sammelplätze für Kranke und Verwundete werden als Kriegsverbrechen eingeordnet, sofern es sich dabei nicht um militärische Ziele handelt. Objekte, die üblicherweise zivilen Zwecken dienen (Krankenhäuser), bleiben im Zweifelsfall zivile Infrastruktur und dürfen daher nicht angegriffen werden. Der direkte Angriff auf eine medizinische Einrichtung legt daher die Vermutung nahe, dass diese kein militärisches Ziel darstellt. Der angreifende Staat muss nachweisen, dass ein ziviles Objekt im Einzelfall militärisch genutzt („missbraucht“) wurde und dadurch seinen humanitär-völkerrechtlichen Schutz verloren hat.“ Somit machen die Wissenschaftlichen Dienste klar, dass wenn ein Verfahren eingeleitet würde, die Beweislast bei der Türkei liege, und diese nachweisen müsse, dass es sich um ein militärisches Ziel gehandelt habe.
Vorsatz spielt entscheidende Rolle
Die Wissenschaftlichen Dienste erklären, dass „das mentale Element“ (Vorsatz) dabei entscheidend sei, ob es sich um ein Kriegsverbrechen handele: „Ein Kriegsverbrechen liegt nur bei absichtlicher Zerstörung ziviler Infrastruktur vor. Dies muss im Einzelfall im Rahmen eines Gerichtsverfahrens unter Berücksichtigung des ‚ex ante‘-Wissens des handelnden Militärs geprüft werden.“ Wenn man diese Argumentation der Wissenschaftlichen Dienste in den Kontext der oben zitierten Äußerung von Hakan Fidan stellt, dann lässt sich daraus deutlich ein Vorsatz ablesen. Beispiele wie den Angriff auf das Kobane Medical Center gibt es unzählige.
Beispiele gezielter Angriffe auf die Zivilbevölkerung
Auch zur Tötung von Zivilpersonen machen die Wissenschaftlichen Dienste klar, dass es sich dabei um Kriegsverbrechen handelt, wenn diese beabsichtigte Ziele der Angriffe waren. Es liegen etliche Beispiele solcher Angriffe vor. Die Wissenschaftlichen Dienste haben diese Angriffe offenbar nicht in ihr Gutachten einbezogen. So hatte zum Beispiel die Türkei am 20. Juni 2023 in der Nähe der Stadt Qamişlo gezielt ein Fahrzeug mit einer Drohne angegriffen und dabei drei Menschen getötet. Unter den Getöteten befanden sich die kurdische Politikerin und Ko-Vorsitzende der Selbstverwaltung im Kanton Qamişlo, Yusra Derwêş (Yusra Darwish) sowie ihre Stellvertreterin Lîman Şiwêş. Der Fahrer des Fahrzeugs, Firat Tuma, kam ebenfalls ums Leben. Der zweite Ko-Vorsitzende des Kantons Qamişlo, Gabi Shamoun, überlebte den Angriff verletzt. Auch Journalist:innen gerieten immer wieder ins Visier solcher gezielter Attacken. So wurde am 14. Januar ein Reporterteam von Hawarnews (ANHA) offenbar gezielt vom türkischen Militär ins Visier genommen. Während die Journalist:innen ein durch einen Angriff beschädigtes Getreidelager dokumentierten, griffen türkische Killerdrohnen das Gebäude erneut an. Ein Mitglied der ANHA-Belegschaft wurde verletzt. Ebenso wurden gezielt Feuerwehrleute angegriffen.
Täter und ihre Alliierten entscheiden über Verfolgung
Während die Wissenschaftlichen Dienste eine Strafbarkeit des Vorgehens der Türkei zumindest für nicht unwahrscheinlich halten, so zeigen sie sich doch illusionslos hinsichtlich einer realen Verfolgung der Taten. Es gebe mehrere Optionen der juristischen Verfolgung. Eine Option wäre die Verfolgung durch den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH). Dabei bestehe aber das Problem, dass weder die Türkei noch Syrien das Römische Statut anerkannt haben und diese Staaten zunächst die Jurisdiktion des IStGH anerkennen müssten. Das bedeutet, die Verurteilung vor dem Internationalen Strafgerichtshof liege demnach in den Händen der Täter. Eine andere Option wäre eine UN-Entscheidung, welche die Alliierten der Türkei um jeden Preis verhindern würden. Die WD bemerken dazu lakonisch: „Aufgrund des Abstimmungsverhaltens einiger Staaten im UN-Sicherheitsrat ist dies derzeit jedoch kaum zu erwarten.“
Eine andere Option wäre die Verfolgung durch die deutsche Strafjustiz. Diese kann Kriegsverbrechen nach dem Weltrechtsprinzip verfolgen. So gab es bereits mehrere Versuche, Verfahren gegen die Türkei wegen Kriegsverbrechen einzuleiten, die bisher am politischen Willen der Judikative scheiterten, denn wie die Wissenschaftlichen Dienste feststellen, hat die deutsche Staatsanwaltschaft bei der Verfolgung ein „weites Ermessen“ und kann von der Verfolgung absehen, wenn sich ein Tatverdächtiger nicht im Inland aufhält. Im Januar haben Überlebende der Kriegsverbrechen in Efrîn Strafanzeige bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe gestellt.
Aufgrund mangelnder Bereitschaft der internationalen und nationalen Strafjustiz blieben nur die Untersuchungen durch internationale Menschenrechtsgremien, schreiben die Wissenschaftlichen Dienste. Dabei geht es um Einrichtungen wie die an den Menschenrechtsrat der UN angeschlossene „Unabhängige Internationale Untersuchungskommission zu Syrien“. Dort finden im Moment auch entsprechende Ermittlungen statt. Allerdings kann diese Kommission nur untersuchen und rügen, was bei mangelndem politischen Interesse praktisch folgenlos bleibt.
Akbulut: „Türkei hat ohne Zweifel Kriegsverbrechen begangen“
Die Auftraggeberin der Gutachtens, Gökay Akbulut, stellte fest: „Die Türkei hat ohne jeden Zweifel Kriegsverbrechen begangen, indem sie die zivile Infrastruktur gezielt angegriffen hat. Dies wird auch aus der Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages deutlich. Hierbei ist nicht zuletzt die Zerstörung des Kobane Medical Centers zu nennen. Dabei handelt es sich um eine zivile medizinische Einrichtung, die definitiv nicht militärisch genutzt wird. Dieser Angriff dient nicht der Selbstverteidigung, das ist ein Kriegsverbrechen.“
„Angriffe werden von den USA toleriert“
Akbulut sieht auch die von den USA geführte internationale Anti-IS-Koalition in der Verantwortung: „Da die USA den Luftraum dort kontrollieren, liegt die Vermutung nahe, dass die Angriffe von den USA toleriert werden. Die Türkei setzt dabei Kampfdrohnen ein, deren Technologie zum Teil aus Deutschland kommt. Diese Waffen töten auch immer wieder Zivilisten. Der Export von Waffen und Waffentechnologie an das Erdogan-Regime muss daher gestoppt werden.“
„Deutschland muss sich für Ende der türkischen Militäroperationen einsetzen“
Die Abgeordnete fordert: „Schon allein wegen ihrer Waffenexporte steht die Bundesregierung in einer besonderen Verantwortung, sich für ein Ende dieser Angriffe einzusetzen. Die Kriegsverbrechen der Türkei müssen aufs Schärfste verurteilt werden. Es ist absolut inakzeptabel, wenn die ‚Bündnispartnerin‘ Türkei das Völkerrecht derart missachtet. Deutschland muss sich für die Beendigung der türkischen Militäroperationen einsetzen.“
2024 droht ein Jahr noch schlimmerer Verbrechen zu werden
Folgt man den Ankündigungen des türkischen Regimechefs Erdoğan, so droht das Jahr 2024 zu einem Jahr noch brutalerer Verbrechen durch das türkische Militär zu werden. Im Windschatten des Gazakriegs und der damit verbundenen weiteren Aufweichung von Basisgrundsätzen des Kriegsrechts erklärte der türkische Diktator: „Wir haben unsere Sicherheitskräfte damit beauftragt, alle terroristischen Elemente, die sie feststellen können, zu eliminieren, unabhängig davon, wer sich neben ihnen, in ihrer Nachbarschaft oder hinter ihnen befindet.“ Während Hakan Fidan für 2023 einen breiten Angriff auf die zivile Infrastruktur ankündigte, folgt nun die zweite Stufe, ein ausgedehnter Angriff auf die Bevölkerung selbst – nicht juristisch ausgedrückt: Ein Massaker. Die Staaten werden nichts unternehmen, daher sind ziviler Protest und Widerstand entscheidend, um dem Massaker Einhalt zu gebieten.