Wahlbeobachtung: Militär statt Demokratie

Eine Wahlbeobachtungsdelegation aus Deutschland berichtet über ihre Erfahrungen am vergangenen Wochenende. Wir sprachen mit der Friedensaktivistin Sara Sommer.

Am vergangenen Sonntag haben in der Türkei und Nordkurdistan Kommunalwahlen stattgefunden. Eine Wahlbeobachtungsdelegation aus Deutschland hat die Kommunalwahlen in Nordkurdistan verfolgt. Wir haben die Aktivistin Sara Sommer zu ihren Eindrücken befragt.

Könnten Sie die Zusammensetzung ihrer Delegation und die Orte, die Sie besucht haben, kurz darlegen?

Die Delegation setzte sich zusammen aus Bezirksabgeordneten der Partei DIE LINKE und Friedensaktivist*innen. Zaklin Nastic, Sprecherin für Menschenrechtspolitik der Linksfraktion im Bundestag, delegierte die neunköpfige Gruppe, um in ihrem Auftrag und auf Einladung der HDP die Kommunalwahlen zu beobachten. Unsere Gruppe besuchte am Wahltag die Orte Cizîr (Cizre), Şirnex (Şırnak), Idil, Qilaban (Uludere), Basan (Güçlükonak) und Silopî.

Gab es Hindernisse bei der Einreise?

Bei der Einreise in die Türkei selbst nicht, allerdings gab es mehrere Kontrollen durch die Sicherheitskräfte auf dem Weg von Amed nach Cizîr, wovon die letzte mehr als eine Stunde andauerte. Die Polizei und die von ihnen angeforderte Unterstützung stellten Fragen nach den Hintergründen der Reise, wie die Delegation in Deutschland organisiert ist und dergleichen.

Andere Delegationen wurden jedoch schon an der Einreise gehindert oder abgeschoben; insgesamt 14 Personen, darunter Journalisten und Politiker*innen, wurde die Wahlbeobachtung somit schon im Vorfeld nicht gestattet.

Wie war die Stimmung in den Städten, haben Sie etwas vom Wahlkampf mitbekommen?

Schon im Vorfeld verlief der Wahlkampf äußerst unfair. Wir konnten alleine an der Sichtbarkeit der Parteien im öffentlichen Raum und in den Medien sehen, dass die HDP als einzige Partei fast komplett ausgeschlossen wurde. Beispielsweise wurde keine Fernsehwerbung gestattet, Wahlkampfplakate wurden von den Sicherheitskräften entfernt, insbesondere wenn sie die Farben Gelb, Rot, Grün enthielten. Wahlkampfauftritte wurden gestört oder komplett verboten, hunderte Helfer*innen verhaftet oder mit anderen Repressalien überzogen. Die HDP musste ihren gesamten Wahlkampf auf persönlichen Kontakt oder auf die sozialen Netzwerke verlegen. War doch mal ein Wahlkampfplakat der HDP neben einem der unzähligen AKP-Plakate zu sehen, fiel sofort auf, dass das System des Ko-Vorsitzes und der damit verbundenen Präsenz von Frauen sich radikal von den „männlich-dominanten“ Plakaten der AKP unterschied.

Die Stimmung in der Bevölkerung war angespannt, den Umständen entsprechend eben. In einer faschistoiden Diktator wie der Türkei wird auch der Gang zur Urne zu einem Akt des Widerstandes und die Menschen waren fest entschlossen, die Zwangsverwaltungen in den kurdischen Gebieten zu stürzen, sowie die AKP überall zu schwächen.

Wie wurde Ihnen als Delegation begegnet, sowohl von Seiten des Staates als auch aus der Bevölkerung?

Der Staat ließ uns deutlich spüren, dass eine unabhängige Beobachtung nicht erwünscht ist. Wir wurden von den Sicherheitskräften verfolgt, gefilmt und Listen mit unseren Namen und Passfotos gingen über Whatsapp-Gruppen herum. Die Bevölkerung hingegen begrüßte unsere Anwesenheit und unsere Bemühungen, mit unseren Berichten eine demokratische Öffentlichkeit zu erreichen, denn in der Türkei selbst gibt es kaum noch eine unabhängige Presse, da Erdoğan alle großen Medien unter seiner Kontrolle hat. Dennoch gibt es auch immer wieder Kritik an den Delegationen aus Deutschland. Schließlich ist es der deutsche Staat, der weiterhin Beziehungen zur Türkei unterhält und der geopolitische Machtinteressen und die Interessen von Kapital und Rüstungsindustrie über die Wahrung der Menschenrechte setzt. Die Menschen wissen, dass viele der Waffen, die der Staat gegen sie einsetzt, aus deutscher Hand kommen.

Wie würden Sie die allgemeine Situation vor Ort beschreiben?

Die Situation ist seit Abbruch der Friedensverhandlungen 2015 und dem darauffolgenden Krieg des türkischen Staates gegen die kurdische Bevölkerung weiterhin sehr angespannt. Die Präsenz von Polizei und Militär ist enorm und die Militarisierung in Städten, Dörfern und Natur ist stark sichtbar. Tausende von HDP-Unterstützer*innen und Politiker*innen sitzen im Gefängnis, zehntausende weitere oppositionelle, demokratische Gesinnte ebenfalls. Der Staat tut alles, um eine Stimmung der Angst zu verbreiten.

Man spürt zudem, dass die Hoffnung auf Veränderung durch Wahlen immer weiter sinkt. Die Stimmung ist aber auch kämpferisch, denn die Bevölkerung unterstützt den Widerstand der Hungerstreikenden.

Wie waren Ihre Beobachtungen am Wahltag?

Das Militär wurde gezielt zur Wahlmanipulation eingesetzt. Unzählige Soldaten wurden in Bussen aus dem ganzen Land angefahren, um in Uniform oder zivil in den Wahllokalen zu wählen, häufig auch mehrmals an verschiedenen Orten. Zudem glichen die Orte eher Militärkasernen, denn fast überall waren Soldaten und Panzerwagen. Zudem wurden Waffen in den Wahllokalen getragen, obwohl es ein grundsätzliches Verbot des Tragens von Waffen in und vor Wahllokalen gibt.

Wurden Sie behindert?

Wir durften an den meisten Orten nicht in die Wahllokale, dies verschärfte sich im Laufe des Tages, sodass wir oft nicht einmal mehr das Wahlgelände betreten durften. Zudem mussten wir ständig Kontrollen und Befragungen über uns ergehen lassen. Transparenz und demokratische Zustände sind das nicht.

Wurden Wähler*innen behindert?

Viele Wähler*innen berichteten uns von Drohungen und Beleidigungen seitens der „Sicherheitskräfte“. Polizisten in Zivil versuchten die Meinungen der Wähler*innen zu beeinflussen. Manche wurden gezwungen, ihre ausgefüllten Wahlscheine zu fotografieren, damit Druck auf sie ausgeübt werden kann. Andere Menschen wurden gehindert, ihre Stimme abzugeben, da es ihnen der Bürgermeister verweigerte, er meinte zu wissen, dass sie die HDP wählen. Es gibt unzählige dieser Beispiele. Zudem ist natürlich die Anwesenheit von Soldaten in den Wahllokalen, besonders auch in dieser Menge, eine sehr einschüchternde Situation, insbesondere eben in Gebieten, in denen die Menschen seit Generationen unter Krieg und der Brutalität des Staates leiden.

Wie beurteilen Sie den Ablauf der Wahlen und das Ergebnis für ihre beobachtete Region und insgesamt?

Insgesamt lässt sich sagen, dass diese Wahlen weder fair noch geheim noch frei waren. Es gab wieder Fälle von Wahlmanipulation, zudem wurde der Wahlkampf im Vorfeld für alle oppositionellen Kräfte beinahe unmöglich gemacht.

Dennoch ging die Doppelstrategie der HDP auf, in den kurdischen Gebieten die Zwangsverwalter abzuwählen und in den großen Städten die Macht der AKP durch Stimmen für die CHP zu schwächen. In größeren Städten, insbesondere in Ankara und Istanbul, hatten Stimmen der HDP- Unterstützer*innen eine entscheidende Rolle. Bemerkenswert ist, dass die HDP zu diesem Schritt aufgerufen hat, obwohl es keine Unterstützung durch die CHP im mehrheitlich kurdisch besiedelten Südosten gab. Dort gingen trotz massiver Manipulationen, insbesondere durch das Militär, lediglich die drei Provinzen Şirnex, Bedlîs und Agirî an die AKP verloren.

Insgesamt wurde Erdoğan zwar geschwächt, konnte aber leider trotzdem eine knappe Mehrheit behalten. Damit sieht es so aus, als werde Erdoğan seine Kriegspolitik weiter intensivieren können.

Möchten Sie noch etwas anmerken?

Unsere Delegation hatte die Motivation, sich solidarisch mit der kurdischen Bevölkerung zu zeigen und zu versuchen, durch Berichterstattung Aufmerksamkeit auf diese Angriffe auf die Demokratie zu werfen. Das ist nicht nur die Aufgabe der Delegationen, sondern aller demokratisch gesinnter Kräfte, denn die kurdische Frage nimmt eine Schlüsselposition für Demokratie und Frieden in der Türkei ein. Wir möchten auch insbesondere nochmal die Forderungen der Hungerstreikenden betonen und schließen uns diesen an. Die Isolation Abdullah Öcalans muss aufgehoben werden, denn sie ist beispielhaft für die Unterdrückung aller Kurd*innen. Solange Öcalan keine Menschenrechte erhält, wird es keine Freiheit und keinen Frieden in der Region geben. Für ein Ende der Isolationsfolter braucht es den Druck einer demokratisch gesinnten internationalen Öffentlichkeit. Zudem gilt für uns aus Deutschland natürlich weiterhin, sich hier mit den deutsch-türkischen Verstrickungen zu befassen und alles dafür zu tun, um die Unterstützung der Kriegspolitik Erdoğans durch die deutsche Bundesregierung endlich zu beenden.