Die Türkei hat am Samstag eine völkerrechtswidrige Luftoperation gegen Nord- und Ostsyrien sowie die Kurdistan-Region Irak (KRI) gestartet. Die Operation sei eine Reaktion auf „Anschläge der KCK/PKK/YPG und anderer Terrororganisationen“ auf die Bevölkerung und Streitkräfte des Landes, heißt es vom türkischen Verteidigungsministerium. Damit gemeint sein dürfte das Attentat in Istanbul am vergangenen Sonntag. Breits früh mehrten sich die Anzeichen, dass die türkische Regierung den Anschlag mit sechs Todesopfern und mehr als 80 Verletzten als konstruierte Rechtfertigung dafür heranziehen könnte, abermals die Autonomieregionen im Nordosten von Syrien (AANES) und im Nordirak anzugreifen. Noch bevor die Ermittlungen richtig begonnen hatten, hatte Ankara bereits einen vermeintlichen Tathergang präsentiert und mit dem Finger auf kurdische Organisationen wie die PKK und YPG gezeigt. Beide wiesen die Beschuldigung vehement zurück und verurteilten den Anschlag auf Zivilist:innen.
Die am späten Samstagabend begonnenen Luftangriffe der türkischen Armee begannen in Kobanê und dehnten sich binnen weniger Minuten zunächst auf den gesamten Grenzstreifen in Nordostsyrien und in der Folge bis nach Asos im irakisch-iranischen Grenzgebiet aus. Betroffen von dem Staatsterror in Syrien sind hauptsächlich die Städte Kobanê, Tel Rifat, Dêrik, Zirgan, Dirbesiyê und Girê Spî, in der KRI wurde neben dem Asos-Gebirge nahe Silêmanî auch die Qendîl-Region bombardiert. Inzwischen gibt es erste Berichte über Todesopfer.
Die Türkei beruft sich bei ihrem Vorgehen wie schon bei vorausgegangen Invasionen und Angriffskriegen auf das Recht zur Selbstverteidigung nach Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen (UN). Artikel 51 der UN-Gründungscharta erkennt zwar allen Mitgliedern das „naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“ zu. Dieses Recht darf ein Mitgliedstaat aber nur dann ausüben, wenn es zu einem „bewaffneten Angriff“ kommt oder gekommen ist und der Staat, der sich auf dieses Selbstverteidigungsrecht beruft, bewiesen hat, dass er sich zurecht auf Artikel 51 bezieht. Außerdem müssen die ergriffenen Selbstverteidigungsmaßnahmen in Rahmen, Umfang, Dauer und Intensität verhältnismäßig sein. Nichts davon ist im Zusammenhang mit dem Anschlag von Istanbul der Fall.
Kurdische Verbände haben die Luftoffensive der Türkei in Nordostsyrien und im Nordirak verurteilt und ihre Diaspora-Community zu Eilprotesten aufgerufen. Die Konföderation der Gemeinschaften Kurdistans in Deutschland e.V. (KON-MED) wertet die Luftschläge als „Ausdruck des genozidalen und barbarischen Wesens eines faschistischen Staates“. In einer ersten Stellungnahme warnte KON-MED davor, dass die Zivilbevölkerung in den angegriffenen Gebieten abermals von Vertreibung, Tod und Terror erfasst werde und Flucht für viele Menschen wieder die einzige Möglichkeit sei, dem kriegerischen Treiben des türkischen Staates zu entgehen. Die Tatsache, dass die ersten Luftangriffe auf Kobanê erfolgten, jener Stadt, in der den Schergen der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) ihre erste, aber vor allem entscheidende Niederlage beigebracht wurde, zeige die wahre Absicht der Türkei bei ihrem Vorgehen auf: „Die Zerschlagung aller Errungenschaften des kurdischen Volkes.“
Scharfe Worte richtete die KON-MED in Richtung Westen. Die Luftoperation könne nicht ohne Rückendeckung von EU, USA und NATO für Ankara erfolgen und auch Deutschland sei mitverantwortlich dafür, dass der türkische Staat nun das zu Ende bringen wolle, was dem selbsternannten IS seinerzeit nicht gelang. „Wer schweigt, ist mitschuldig“, mahnte der Dachverband und warf der internationalen Staatengemeinschaft vor, „Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen“ zu unterstützen. Ohne Zustimmung insbesondere der USA, die die Lufthoheit über dem Irak und Nordsyriens innehaben, kann dort kein Kampfflugzeug fliegen.
Ähnlich äußerte sich auch der kurdische Europadachverband KCDK-E. In einer Mitteilung warnt die Organisation vor „Massakern an der Zivilbevölkerung“ in Rojava sowohl durch die Luftangriffe der Türkei als auch mittels ihrer dschihadistischen Milizen, die seit Jahren in den besetzten Gebieten unfassbare Kriegsverbrechen unter dem Schutzschirm Ankaras begehen. „Wir haben früh davor gewarnt, dass der Istanbuler Anschlag nur als Vorwand dienen würde, um Kurdistan aufzumischen. Diese Warnungen haben sich bewahrheitet. Wir appellieren an die demokratische Öffentlichkeit, sich solidarisch mit den angegriffenen Völkern zu zeigen und Kurdistan auf der Straße zu verteidigen.“
Aktuell finden Eilproteste in folgenden deutschen Städten statt:
Düsseldorf: Hauptbahnhof
Darmstadt: Hauptbahnhof
Dortmund: Hauptbahnhof
Hamburg: Hauptbahnhof
Saarbrücken: Hauptbahnhof
sowie in Bonn, Hannover, Osnabrück (jeweils am Hauptbahnhof) und in Stuttgart (Schlossplatz). Tagsüber sind in folgenden Orten Proteste geplant:
Berlin: 16:00 Uhr, Alexanderplatz
Dresden: 14:00 Uhr, Albertplatz
Frankfurt am Main: 13:30 Uhr, Hauptbahnhof
Halle: 14:00 Uhr, Marktplatz
Leipzig: 14:00 Uhr, Willy-Brandt-Platz
Magdeburg: 14:00 Uhr, Hauptbahnhof
Weitere Termine folgen zeitnah.