Im Hamburger Rathaus ist die Dokumentation „Tearing Walls Down” von Şerif Çiçek und Hebun Polat gezeigt worden. Veranstalterin der Filmvorführung im Kaisersaal am Samstag war die Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft. Moderiert wurde die Veranstaltung von der Ko-Fraktionsvorsitzenden Cansu Özdemir. Zu Gast waren der Produzent Adil Demirci sowie die ehemaligen HDP-Abgeordneten Sibel Yiğitalp und Selma Irmak. Der Andrang war trotz des guten Wetters so groß, dass nicht alle Gäste einen Platz im Kaisersaal fanden.
Der Film porträtiert das Leben und politische Wirken von Aysel Tuğluk, Figen Yüksekdağ und Gültan Kışanak – drei demokratisch gewählte Politikerinnen der HDP und BDP, die 2016 im Zuge der Repressionswelle nach dem einseitig von der türkischen Regierung beendeten Friedensprozess mit der kurdischen Bewegung inhaftiert wurden. Die vierte Protagonistin ist die ehemalige Abgeordnete Sibel Yiğitalp, die im Exil in Berlin lebt und sich von hier aus für ihren richterlichen Freispruch und die Freilassung ihrer inhaftierten Weggefährtinnen einsetzt.
Der emotional berührende Film lässt Angehörige der gefangenen Frauen zu Wort kommen. So fährt Evîn Jiyan Kışanak, die Tochter von Gültan Kışanak, wöchentlich ihrer Mutter im Gefängnis besuchen, obwohl das am anderen Ende der Türkei liegt. Absichtlich würden die Gefangenen weit entfernt von ihren Familien untergebracht, glaubt sie und sagt: „Ich lerne so viel von ihr.“ Ihre Mutter sei doch nur einen Meter fünfzig groß, welche Gefahr sollte sie darstellen, fragt Evîn Kışanak.
Angeklagt im Kobanê-Prozess
Für Gültan Kışanak waren 230 Jahre Gefängnis gefordert worden. 2019 wurde sie wegen angeblicher PKK-Mitgliedschaft zu mehr als 14 Jahren Haft verurteilt. Im selben Verfahren war auch gegen die frühere Parlamentarierin Sebahat Tuncel eine ähnlich hohe Freiheitsstrafe verhängt worden. Zwar wurden die Urteile gegen beide Politikerinnen noch im selben Jahr in zweiter Instanz aufgehoben. Das neu aufgerollte Verfahren ist jedoch mit dem in Ankara anhängigen Kobanê-Prozess zusammengelegt worden und weiter anhängig. Welche Gefahr Gültan Kışanak für den türkischen Staat darstellt, wird an Filmausschnitten deutlich. Im Parlament war Kışanak eine starke Rednerin, die das Patriarchat, den Nationalismus und die Genozidpolitik des türkischen Staates wütend angriff.
Aysel will vergessen, was sie erleben musste
Sedat Şenoğlu, Ehemann der ehemaligen HDP-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ, berichtet im Film über das Leben seiner Partnerin. Sie sei in einer nationalistischen türkischen Familie groß geworden, habe sich aber entschlossen auf die Seite der Kurd:innen gestellt. Das Filmteam begleitet ihn zum Gefängnis Kandira, in dem die Frauen inhaftiert sind. Liebevoll und respektvoll berichtet er über Figen und ihren Kampf.
Auch Aysel Tuğluk ist in dem Film wiederzusehen. Die einst charismatische Politikerin wirkt in der Wohnung ihres Bruders verwirrt und verloren. Auf großen öffentlichen Druck war Tuğluk, die an Demenz leidet, am 27. Oktober 2022 entlassenen worden. Ihre Krankheit sei nun noch weiter vorangeschritten. Sie könne sich nicht mehr um sich selbst kümmern, berichtete Selma Irmak im Hamburger Rathaus: „Sie leidet vielleicht unter Demenz, weil sie vergessen will, was sie erleben musste.“
Im September 2017 löste ein Angriff eines rassistischen Mobs auf die Beerdigung von Hatun Tuğluk, der Mutter Aysel Tuğluks, weltweit Empörung aus. Hunderte Nationalisten hatten in Ankara die Beerdigung mit Steinen attackiert und Hassparolen gegen die Minderheiten der Armenier:innen und Alevit:innen gerufen. Der Leichnam musste daraufhin exhumiert werden, weil der Mob angedroht hatte, die Leiche zu schänden. Wenige Tage später wurde Tuğluk in Dersim beigesetzt. Ihre Tochter durfte sich nicht verabschieden. Die Gefängnisleitung hatte ihr keine zweite Sondererlaubnis erteilt. Ärzt:innen vermuten, dass dieses Ereignis ausschlaggebend für die Demenz von Aysel Tuğluk war.
Die gesamte Türkei ist ein einziges Gefängnis
„Du darfst noch nicht einmal entscheiden, wo du deine Toten begräbst“, fuhr Selma Irmak fort. Die Ereignisse um das Begräbnis ihrer Mutter sei Aysel Tuğluks zweites Trauma geworden, danach habe sich ihr Gesundheitszustand rapide verschlechtert. „Wir kämpfen weiter, weil wir nicht wollen, dass zukünftige Generationen ebenfalls im Gefängnis leben müssen.“ Die ganze Türkei sei nun ein Gefängnis, so Selma Irmak, die selbst in der Türkei im Gefängnis gewesen ist. Aysels Tuğluks erstes schwerwiegendes Trauma war der Verlust ihres Bruders, der 1979 als politischer Gefangener erschossen wurde, mutmaßlich von einem Ultranationalisten, der eine Waffe in die Vollzugsanstalt geschmuggelt hatte.
Auch Sibel Yiğitalp drohte eine lange Haftstrafe. „200 Jahre waren für mich vorgesehen“, berichtete sie. Die Türkei begehe die Verbrechen im eigenen Land, aber auch in Rojava nicht alleine. Europa beteilige sich und trage eine Mitschuld. Europa wolle die Migration begrenzen, aber die Unterstützung für Erdoğan und die Angriffe auf Rojava würden immer mehr Menschen in die Flucht treiben. In der Türkei würden die Leichname ermordeter Menschen in Tüten an die Familien übergeben werden. Das Regime werde dem sogenannten Islamischen Staat immer ähnlicher. Das Land habe europaweit die meisten Inhaftierten.
Im Film ist Sibel Yiğitalp, die ihre Kinder in der Türkei zurückgelassen hat, auf eine Demonstration zum 8. März in Berlin zu sehen, mit Frauen aus vielen Ländern, die gemeinsam „Jin, Jiyan, Azadî“, die Parole der kurdischen Bewegung, rufen. Selma Irmak wies darauf hin, dass Abdullah Öcalan den Weg für die Befreiung von Frauen aufgezeigt hätte, die es sich zunächst zur Aufgabe gemacht hätten, sich selbst und dann die Gesellschaft zu befreien.
VA im Hamburger Centro Sociale zu Iran und Rojhilat
Am Ende der Veranstaltung wies Cansu Özdemir noch auf eine Veranstaltung hin, die heute zum Jahrestag des Beginns des Aufstandes in Iran im Hamburger Centro Sociale stattfindet. Dort werden um 18.00 Uhr Medya Rojhilat und Sema Balouch über die Kämpfe des vergangenen Jahres seit der Ermordung von Jina Mahsa Amini und die Perspektiven des Aufbruchs in Iran und Ostkurdistan berichten.