Nach fast zwei Jahren und knapp hundert Prozesstagen findet am kommenden Mittwoch die Urteilsverkündung im Antifa-Ost-Verfahren statt. Angeklagt sind vier Autonome aus Berlin und Leipzig: Lina E., die seit zweieinhalb Jahren in der JVA Chemnitz in Untersuchungshaft ist – wo auch die NSU-Terroristin Beate Zschäpe einsitzt, sowie Jannis R., Lennart A. und Philipp M., alle drei bisher auf freiem Fuß.
Schon seit September 2021 wird in Dresden gegen die Antifaschistin Lina E. und ihre drei Mitangeklagten verhandelt. Die Bundesanwaltschaft wirft ihnen auf Grundlage des Gesinnungsparagrafen gegen Linke – § 129 Strafgesetzbuch (StGB) – die Bildung einer kriminellen Vereinigung und sechs schwere Angriffe auf Rechtsextreme auf, verübt zwischen 2018 und 2020 in Leipzig, Wurzen und Eisenach. Das Quartett hätte „potenziell lebensgefährliche Gewalt“ eingesetzt, behauptet die Anklage und fordert bis zu acht Jahre Freiheitsstrafe. Lina E. sei die „Rädelsführerin“ gewesen.
Die antifaschistische Szene hingegen geht davon aus, dass der Staat mit dem Prozess nur ein Exempel gegen Links statuieren will. Sie erwartet Haftstrafen und befürchtet, dass der Ausgang des Verfahrens die Maßstäbe politischer Strafverfolgung nach § 129 neu setzen könnte und somit einen Einfluss auf die gesamte Bewegung haben wird. Auch die Verteidigung von Lina E. und den weiteren Angeklagten sehen eine politische Justiz und einen unbedingten Verfolgungseifer bei der Staatsmacht am Werk. Autonome und antifaschistische Gruppen rufen daher zu einer Tag-X-Demonstration am 3. Juni in Leipzig auf. Unter anderem lädt das Bündnis „…umsGanze!“ nach Leipzig ein. Wir dokumentieren den Aufruf:
Zur Tag-X-Demonstration am 3. Juni nach Leipzig!
Im Jahr 2020 kam es zu einer Hausdurchsuchungswelle in Leipzig in dessen Zusammenhang am 05.11.2020 die Antifaschistin Lina von der Sonderkommission LinX inhaftiert wurde. Ihr wird vorgeworfen, Kopf einer kriminellen Vereinigung, nach Paragraf §129 StGB, zu sein und Angriffe auf Neonazis im Rahmen dieser Vereinigung begangen und geplant zu haben. In Sachsen haben Ermittlungen mittels des §129 eine lange Kontinuität und eine regelrechte Historie im Kampf gegen antifaschistisches Engagement. Seit den erfolgreichen, teilweise militanten Massenprotesten gegen den Nazigroßaufmarsch in Dresden 2010, verging kein Jahr in Sachsen ohne Ermittlungen gegen linke Aktivist:innen mittels des Schnüffelparagrafen §129.
Dies sind die viel zitierten „Sächsischen Verhältnisse“, in der die sächsische CDU-Landesregierung immer wieder medienwirksam dem Antifaschismus den Kampf ansagt, um am rechten Rand Wähler:innen zu fischen und keine Möglichkeit auszulassen Antifaschist:innen mit Neonazis gleichzusetzen. Mit dem Willen, dem Antifaschismus im Freistaat den Kampf anzusagen, wurde 2019 durch die sächsische CDU im Wahlkampf die Soko Linx gegründet.
Dass Nazis etwas entgegengesetzt wird, ist politisch richtig. Wenn Nazis Angst haben müssen auf die Straße zu gehen, wenn sie unsere Straßen meiden, dann ist das ein politischer Erfolg. Solche Erfolge bewerten wir nicht anhand des Strafgesetzbuches, sondern anhand der Frage, ob die Praxis das Leben besser macht. Wenn Nazis politisch weniger aktiv sind, weniger Hetze verbreiten und Leuten schaden können, ist das richtig. Im Antifa-Ost-Verfahren wird genau das, stellvertretend für eine politische Bewegung, aktuell verhandelt. Dort, wo Antifaschist:innen auf Nazis treffen und ihnen konsequent entgegen treten, dort kommen sie früher oder später auch dem Staat in die Quere. Das ist kein Zufall. Der Staat und sein Gewaltmonopol ist nicht einfach eine neutrale Einrichtung zum Wohle aller. Die gesellschaftliche Ordnung, die der Staat mit seiner Gewalt durchsetzt, ist eine Ordnung, die fortlaufend Ausschlüsse produziert. Diese Gesellschaft und ihre gewalttätige Eigentumsordnung, ihr Staat und sein Gewaltmonopol, sind daher nicht unsere Verbündeten, sondern unsere Gegner:innen.
Nach einigen rechtswidrigen Hausdurchsuchungen und vermeintlichen Ermittlungserfolgen, welche später nie in Verurteilungen mündeten, musste ein Erfolg medienwirksam in Szene gesetzt werden.
So sitzt Lina seit nun mehr 2,5 Jahren in Untersuchungshaft und ist mit drei weiteren Angeklagten im Antifa-Ost-Verfahren einem Schauprozess der Justiz ausgesetzt. Über 50 weitere Personen sind im Ermittlungsverfahren der Behörden im Visier. Im Zuge des Verfahrens kam es zu weiteren Hausdurchsuchungen und dem Versuch, die bundesweite linke Szene zu durchleuchten. Es ist eines der größten Ermittlungsverfahren der jüngeren Geschichte gegen linke und antifaschistische Strukturen geworden, welches medial durch Diffamierungen und diskriminierende Zuschreibungen inszeniert wurde.
Gerade zeigt sich jedoch, dass Antifaschismus notwendig bleibt und immer wichtiger wird. Während die AfD weiterhin Erfolge bei Wahlen einfährt, rückt auch der Ton anderer Parteien nach rechts. Die Gewaltdelikte von rechts sind nach wie vor hoch, in den letzten 30 Jahren kamen mehr als 219 Menschen durch rechte Gewalt zu Tode – die Dunkelziffer ist wahrscheinlich noch gravierender, wenn man bedenkt, wie oft die politische Dimension von Straftaten von rechts absichtlich heruntergespielt oder übersehen wird.
Auf internationaler, wie auch auf lokaler Ebene verschärft sich der Rechtsruck immer weiter, Neonazis sind über Ländergrenzen hinweg vernetzt und mit der AfD bis in die Parlamente vorgedrungen. Dabei stellen Sachsen und andere ostdeutsche Bundesländer kein rückständiges Phänomen dar, sondern sind wohl eher ein dystopisches Bild der Zukunft.
Militanz gegen Neonazis ist zwar bei weitem nicht das Einzige, was wir als radikale Linke in unserem Werkzeugkoffer liegen haben, aber in bestimmten Fällen ist es das effektivste Mittel. Doch dabei dürfen wir nicht stehen bleiben: Antifaschistische Arbeit ist vielschichtig und facettenreichreich – vom Outing bis zur Aufklärungsarbeit an Schulen. Der Staat versucht mit diesem Prozess alle Formen unserer Arbeit zu delegitimieren, während Nazis weiter auf den Straßen und in den Parlamenten Menschenleben gefährden.
Doch lassen wir uns davon nicht beeindrucken, für uns gilt weiter: Die Rechten zu Boden, den antifaschistischen Selbstschutz aufbauen!
Egal wie das Urteil in diesem Prozess ausgehen sollte, allein der Prozess ist Grund genug zum Tag-X nach Leipzig zu fahren. Nicht nur, dass die angeklagten Antifaschist:innen langjährige Haftstrafen erwarten, und der Paragraph 129 wieder seiner Funktion als Schnüffelparagraph alle Ehre bewies: Auch die Hausdurchsuchungs – und Repressionswelle, welche 2020 begann, setzt sich bis heute in Leipzig und anderen ostdeutschen Städten fort.
Dieser Prozess ist ein skandalöser Angriff auf die radikale Linke und zeigt uns das Ausmaß der aktuellen Entwicklungen einer autoritären Formierung des Staates – diese werden wir nicht unbeantwortet lassen! Deshalb rufen wir – unabhängig von möglichen Verbotsversuchen – bundesweit dazu auf mit uns am Tag-X nach Leipzig zu fahren. Lasst uns solidarisch mit den von Repression betroffenen Genoss:innen sein. Ewigen Hass der Repression!
Am 3. Juni zur Tag-X-Demonstration nach Leipzig – 17 Uhr auf der Wolfgang-Heinze-Straße in Connewitz!
Aktuelle Infos unter: https://tagxantifaost.noblogs.org
Titelbild: Rote Flora Hamburg, via Enough 14