In vielen Städten in Iran und Ostkurdistan (Rojhilat) wird der von der Revolutionsbewegung ausgerufene Streik am dritten Tag in Folge fortgesetzt. Neben Gewerbetreibenden beteiligen sich auch Studierende an dem am Montag gestarteten Streik, mit dem das Regime der Islamischen Republik Iran wirtschaftlich unter Druck gesetzt werden soll.
Geschlossene Geschäfte (Video: RojNews)
In Ostkurdistan blieben die meisten Geschäfte geschlossen, so etwa in Sine (Sanandadsch), Ciwanro (Dschavanrud), Kirmaşan (Kermanschah), Pîranşar (Piranschahr), Mahabad, Bokan, Şino (Oschnaviyeh), Seqiz (Saqqez), Kamîran (Kamyaran), Bane und Dîwandere (Divandarreh). Auch aus iranischen Städten wie Schiraz und Isfahan wird von einer Beteiligung der Gewerbetreibenden am Streik berichtet. In Teheran und weiteren Universitätsstädten boykottieren Studierende die Vorlesungen.
In den vergangenen Monaten haben wiederholt Generalstreiks zur Unterstützung des nach dem gewaltsamen Tod von Jina Amini Mitte September ausgebrochenen revolutionären Aufstands stattgefunden. Die 22-jährige Kurdin war wegen eines angeblichen Verstoßes gegen die Kleiderordnung von der Sittenpolizei in Teheran festgenommen und misshandelt worden.
Amnesty International: Es geht um mehr als die Abschaffung der Sittenpolizei
Unterdessen hat auch Amnesty International dazu aufgerufen, sich von den widersprüchlichen Aussagen über eine angebliche Auflösung der „Sittenpolizei“ nicht täuschen zu lassen. Dazu hatte sich der iranische Generalstaatsanwalt Mohammad Jafar Montaseri bei einer Pressekonferenz am 3. Dezember geäußert. Am Mittwoch hat eine weitere Behörde von einem Ende der Aktivitäten der Sittenpolizei gesprochen. „Die Einsätze der Sittenpolizei wurden auf Anweisung der Staatsanwaltschaft eingestellt", sagte Ali Chanmohammadi als Sprecher der „Zentrale für die Förderung der Tugend und der Verhütung des Lasters“, wie das Nachrichtenportal Entekhab berichtete. Die Sittenpolizei setzte bislang die strengen Moral- und Verhaltensvorschriften im Iran um, die von der Tugendzentrale festgelegt wurden.
„Iranische Behörden schieben sich gegenseitig die Schuld zu“
Heba Morayef, Regionaldirektorin von Amnesty International für den Nahen Osten und Nordafrika, erklärte am Mittwoch, die Erklärung des Generalstaatsanwalts sei absichtlich vage gehalten und erwähne die rechtliche und politische Grundstruktur nicht, die die Praxis der Zwangsverschleierung von Frauen und Mädchen aufrechterhält. „Die Behauptung, die Sittenpolizei habe nichts mit der Justiz zu tun, verzerrt die Tatsache, dass die Justiz seit Jahrzehnten die Kriminalisierung von Frauen und Mädchen durch missbräuchliche und diskriminierende Zwangsverschleierungsgesetze absegnet. Die iranischen Behörden schieben sich nun angesichts der Empörung über diese extreme Form der geschlechtsspezifischen Diskriminierung und Gewalt gegenseitig die Schuld zu, um sich aus der Verantwortung zu stehlen", so Morayef.
Heba Morayef forderte: „Die internationale Gemeinschaft und die internationalen Medien dürfen sich nicht täuschen lassen. Die Verschleierungspflicht ist im iranischen Strafgesetzbuch und in anderen Gesetzen und Verordnungen verankert. Sie ermöglichen es Behörden und Sicherheitskräften, Frauen willkürlich festzunehmen und zu inhaftieren und ihnen den Zugang zu öffentlichen Einrichtungen wie Krankenhäusern, Schulen, Regierungsbüros und Flughäfen zu verweigern, wenn sie ihr Haar nicht bedecken."
Kopftuchpflicht für Mädchen ab neun Jahren
Gesetze zur Zwangsverschleierung verletzen eine ganze Reihe von Rechten, darunter das Recht auf Gleichheit, Privatsphäre sowie Meinungs- und Glaubensfreiheit. Außerdem erniedrigen sie Frauen und Mädchen und berauben sie ihrer Würde, ihrer körperlichen Autonomie und ihres Selbstwerts, erklärt Amnesty International.
Nach Artikel 638 des islamischen Strafgesetzbuchs des Iran wird jede Handlung, die als „anstößig" für die öffentliche Ordnung angesehen wird, mit einer Freiheitsstrafe von zehn Tagen bis zu zwei Monaten oder 74 Peitschenhieben bestraft. In einer Erläuterung zu diesem Artikel heißt es, dass Frauen, die in der Öffentlichkeit unverschleiert gesehen werden, mit einer Freiheitsstrafe von zehn Tagen bis zu zwei Monaten oder einer Geldstrafe zu bestrafen sind.
Das Gesetz gilt für Mädchen ab neun Jahren, dem Mindestalter für die Strafmündigkeit von Mädchen im Iran. In der Praxis haben die Behörden eine Kopftuchpflicht für Mädchen ab dem siebten Lebensjahr eingeführt, wenn sie in die Grundschule kommen.
„Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass die Demonstrant:innen im Iran nicht nur die Abschaffung der Sittenpolizei fordern, sondern die Transition in ein politisches und rechtliches System, das ihre grundlegenden Menschenrechte und Freiheiten respektiert. Der Volksaufstand im Iran spiegelt die landesweite Wut über die jahrzehntelange gewaltsame Unterdrückung des iranischen Volkes wider", sagt Heba Morayef.