Sonne über Şengal: Vortrag und Reisebericht in Lübeck

In Lübeck startete eine Vortragsreise mit dem Titel „Sonne über Şengal“. Eine Jugenddelegation berichtet über den Genozid von 2014, die bis heute anhaltende Gewalt, und wie die ezidische Gemeinschaft mit dem Aufbau ihrer Selbstverwaltung darauf antwortet.

Jugenddelegation berichtet über Genozid und Selbstverwaltung

Mit einer Auftaktveranstaltung im Lübecker Solizentrum startete die Vortragsreise „Sonne über Şengal“. Eine internationale Jugenddelegation, die 2024 anlässlich des zehnten Jahrestags des Genozids an den Ezid:innen die Region Şengal besuchte, wird bis Mitte Juni in rund 20 Städten in Deutschland über ihre Eindrücke und die gesellschaftspolitischen Entwicklungen vor Ort berichten. Ziel ist es, über die Geschichte des Genozids aufzuklären und Spenden für ein geplantes Jugend-Sportzentrum im ezidischen Kerngebiet Südkurdistans zu sammeln.

Religion, Geschichte und Verfolgung

Die Veranstaltung begann mit einem Überblick über das Ezidentum – eine der ältesten monotheistischen Religionen, deren Wurzeln über 4.000 Jahre zurückreichen. Geprägt von einer engen Naturverbundenheit wird Wissen traditionell mündlich, durch Lieder und Rituale überliefert. Weiß steht für Frieden, Schwarz für Trauer – die Kleidung trägt Symbolkraft. Frauen gelten als Trägerinnen der Gemeinschaft und spielen eine zentrale Rolle in der religiösen Praxis.

Die Referent:innen machten deutlich, dass der Genozid von 2014 nicht isoliert war: Mindestens 74 organisierte Vernichtungswellen haben die Ezid:innen in ihrer Geschichte erlebt. Die Verfolgung setzte sich unter verschiedenen Regimen fort – von wirtschaftlicher Ausgrenzung über Pogrome bis hin zu systematischer Gewalt.

Der Genozid von 2014

Am 3. August 2014 begann der von der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) geplante Genozid und Feminizid in Şengal. Die Peschmerga der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK), obwohl vorab informiert, verließen die Region, entwaffneten die Bevölkerung und ließen sie schutzlos zurück. Tausende Menschen wurden ermordet, insbesondere alte Männer, Frauen und Kinder. Junge Frauen wurden in der sogenannten „Roten Schule“ katalogisiert, verschleppt, versklavt und ihrer Würde beraubt. Viele Überlebende flüchteten ins Şengal-Gebirge – bei über 50 Grad, ohne Wasser oder Nahrung. Ältere Menschen und Kinder starben, manche nahmen sich das Leben, um nicht in die Hände der Angreifer zu fallen.

Erst durch die Intervention der Guerilla der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) sowie später der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ aus Rojava konnte ein Fluchtkorridor geschaffen werden. Dieser rettete Tausenden das Leben und ermöglichte den Übertritt nach Nord- und Ostsyrien.

Der Genozid dauert an

Trotz der Befreiung hält die Gewalt gegen Ezid:innen an. Die türkische Armee bombardiert regelmäßig gezielt Infrastruktur in Şengal, darunter Schulen und Gesundheitszentren. Auch von Seiten der PDK wird der Aufbau der lokalen Selbstverwaltung behindert – zuletzt durch das Verbot einer ezidischen Partei und einer Frauenorganisation. Tausende Menschen gelten weiterhin als vermisst, die Strafverfolgung gegen IS-Täter durch den irakischen Staat weist diverse gravierende Mängel auf.

Demokratischer Aufbau als Antwort

Die ezidische Bevölkerung antwortet auf den Genozid und Feminizid mit dem Aufbau einer eigenen demokratischen Selbstverwaltung, inspiriert vom Konzept des demokratischen Konföderalismus nach Abdullah Öcalan. Im Zentrum stehen Geschlechtergerechtigkeit, Basisdemokratie und Selbstorganisation in Kommunen. Diese gründen thematische Kommissionen – etwa zu Frauen, Bildung, Gesundheit, die sich regional vernetzen. Der Autonomierat von Xanesor sowie der 5. Kongress der Autonomieräte 2023 sind Ausdruck dieser neuen politischen Struktur. „Darin sehen wir die widerständige und mutige Antwort auf den Genozid, was die lehrreichste politische Erfahrung sei“, beschreibt ein Referent den vor Ort erlebten Aufbau.

Die Frauenbewegung TAJÊ sowie die organisierte Jugend spielen dabei eine tragende Rolle. Letztere setzt mit Bildungsinitiativen und kollektiven Lesekreisen eigene Akzente gegen patriarchale Strukturen und für gesellschaftlichen Fortschritt. Die TAJÊ setzt sich dafür ein, das patriarchales Frauenbild in der Gesellschaft abzuschaffen. „Diese Frauenperspektive ist essentiell für den demokratischen Aufbau“, so der Referent.

Deutschland in der Verantwortung

Am Ende der Veranstaltung warfen die Referent:innen einen kritischen Blick auf die Rolle Deutschlands. Über 1.000 Deutsche reisten nach Syrien und schlossen sich dem IS an, viele befinden sich heute in Gefängnissen der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien – ohne Rückführungspläne der Bundesregierung. Gleichzeitig leben rund 200.000 Ezid:innen in Deutschland, viele sind von Abschiebung bedroht. Waffenexporte an die Türkei unterstützen indirekt die Angriffe auf Şengal.

Die Delegation betonte, dass Staat und Gesellschaft in Deutschland Verantwortung tragen: sowohl für die Verfolgung der Täter als auch für die Unterstützung beim Wiederaufbau. Die Selbstorganisierung und politische Bildung in der Diaspora sei eine konkrete Form der Solidarität gegen religiöse Verfolgung und patriarchale Gewalt.