Die Schweizer Justiz hat die Auslieferung eines vermeintlichen „PKK-Kaders” nach Deutschland abgelehnt. Es fehle es an der Strafbarkeit, heißt es in der Urteilsbegründung des Bundesstrafgerichts in Bellinzona (AZ: RR.2020.39) vom Donnerstag, die einer Bauchlandung für die deutschen Strafverfolgungsbehörden gleichkommen dürfte. Diese werfen dem namentlich nicht genannten Kurden mit türkischer Staatsbürgerschaft vor, sich von Juni 2014 bis September 2014 als „Vollkader einer terroristischen Vereinigung im Ausland“ (§§129a/b StGB), gemeint ist die PKK, zunächst im Bundesgebiet betätigt zu haben. Ab August 2015 bis März 2016 habe er seine Aktivitäten - „die Rekrutierung jugendlicher Anhänger für die PKK bzw. für die Volksverteidigungskräfte HPG” - nach Belgien und Frankreich verlagert. Am 1. November 2019 wurde der Beschuldigte aufgrund eines vom Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart ausgestellten Haftbefehls am Flughafen Zürich festgenommen und anschließend inhaftiert. Zwei Monate später bewilligte das Schweizer Bundesamt für Justiz die Auslieferung des Mannes nach Deutschland. Dagegen legte der Betroffene erfolgreich Beschwerde beim Bundesstrafgericht ein. Anfang Mai wurde die Haftentlassung angeordnet.
PKK in der Schweiz nicht verboten
Damit die im Auslieferungsersuchen geschilderten allgemeinen Betätigungen des Beschwerdeführers in seiner Rolle als vermeintliches Kadermitglied der PKK nach schweizerischem Recht eine Strafbarkeit zur Folge haben könnten, müsste die PKK selber als „kriminelle Organisation” qualifiziert werden. Im Gegensatz zu Terrororganisationen wie Al-Qaïda und dem sogenannten „IS” hat die Schweiz bis heute kein Gesetz erlassen, welches die PKK als solche verbietet.
Die Richter beschäftigten sich umfassend mit den Hintergründen der kurdischen Frage und den Konflikten rund um Kurdistan. So heißt es in dem Urteil, die Gründung der PKK „ist als Reaktion auf die Unterdrückung der kurdischen Identität durch den türkischen Staat” erfolgt. „Ab 1984 kämpfte sie gewaltsam für einen unabhängigen Kurdenstaat und später, nach Aufgabe dieses Ziels, für die kulturellen Rechte der Kurden. Diese Zielsetzungen lassen die PKK nicht als eine Organisation erscheinen, deren Zwecke es in erster Linie bzw. in überwiegendem Maße ist, Gewaltverbrechen zu vergehen.” Die PKK werde durch die „ihr zugeordneten Unterorganisationen” zwar immer wieder in Verbindung mit Gewaltverbrechen gebracht, aber ihre Zielsetzungen ließen sie eher als „politische Partei oder als Widerstands- und Unabhängigkeitsbewegung denn als kriminelle Organisation” erscheinen. Dabei sei zu beachten, dass von der PKK verfolgte Anliegen auch bei den schweizerischen Behörden grundsätzlich auf Verständnis stießen.
Standardprogramm undifferenzierte Vorwürfe
Dass besonders in den Justizbehörden im Süden der Bundesrepublik ein Ermittlungseifer gegen die kurdische Freiheitsbewegung über die „Maaßen“ verankert ist, verdeutlichen die widersprüchlichen Beschuldigungen, auf welche die Richter in Bellinzona hinweisen: „Was die dem Beschwerdeführer vorgeworfene Rekrutierung von Kämpfern für den bewaffneten Kampf angeht, so kann dem Auslieferungsersuchen u.a. entnommen werden, er habe am 27. Juli 2014 dazu aufgerufen, am Widerstand gegen den IS in den von Kurden beanspruchten Gebietsteilen in Syrien (Rojava/Kobane) teilzunehmen. In der Folge seien sechs junge Männer aus dem Raum Z. in die Türkei ausgereist, um von dort zu den Kampfgebieten in Syrien zu gelangen. Drei weitere der im Ersuchen genannten Veranstaltungen waren thematisch offenbar auch dem Widerstand der Kurden gegen den IS in Syrien und im Irak (namentlich in der Stadt Sindschar) gewidmet. (…) Anhand dieser Ausführungen wird ersichtlich, dass der Beschwerdeführer nicht Kämpfer für den Kampf gegen den türkischen Staat in der Türkei, sondern offensichtlich für den Kampf der Kurden gegen den IS in Syrien und im Irak rekrutiert haben soll. Eine Rekrutierung von Kämpfern für den Kampf gegen den türkischen Staat wäre im hier interessierenden Zeitraum (Juni bis September 2014) zudem wenig wahrscheinlich, da sich die PKK in genau diesem Zeitraum am türkischen Friedensprozess beteiligte, zu dessen Beginn der PKK-Führer Öcalan die Kämpfer der PKK zur Niederlegung der Waffen aufgerufen hatte. Dieser Friedensprozess wurde im Juli 2015 für beendet erklärt. Vor diesem Hintergrund erscheint es als voreilig, mit bloßem Verweis auf die Rekrutierung von Kämpfern für den bewaffneten Kampf der HPG in Syrien und im Irak als Unterstützung einer kriminellen Organisation anzusehen. Nachfolgend ist daher zuerst der historische und völkerrechtlich-humanitäre Kontext der fraglichen Konflikte in Syrien und im Irak zu erörtern.”
Gericht: PKK rekrutierte Kämpfer für Verteidigung von Rojava
Die Feststellungen des Schweizer Bundesstrafgerichts müssen niederschmetternd für alle „Fachleute” in den hiesigen Justizbehörden sein, auf deren Agenda die Kriminalisierung des kurdischen Widerstands steht. Denn weiter stellen die Richter fest: „Sowohl die Ausführungen im Auslieferungsersuchen selbst als auch der oben dargestellte historische Kontext bestätigen, dass der Beschwerdeführer im Jahr 2014 im Rahmen seiner Tätigkeit für die PKK keine Kämpfer im Raum Z. für die HPG rekrutiert hat, damit diese in der Folge Anschläge gegen militärische, staatliche und zivile Ziele in der Türkei verübten. Solches wird einerseits im Auslieferungsersuchen selber nicht geltend gemacht. Zudem erschiene ein derartiger Vorwurf auch vor dem geschilderten zeitgeschichtlichen Hintergrund als ausgeschlossen. Vielmehr rekrutierte die PKK bzw. die HPG als deren bewaffneter Arm im Jahr 2014 - dem Aufruf der YPG zu einer Generalmobilmachung für die Verteidigung Rojavas folgend - Kämpfer, welche die YPG im Kampf gegen die Angriffe des IS auf die von Kurden besiedelten Gebiete in Syrien, aber auch im Irak, unterstützten. Die Rekrutierung von Kämpfern erfolgte hier somit zu Gunsten einer Bürgerkriegspartei im Rahmen einer militärischen Auseinandersetzung. Der hauptsächliche Zweck dieser Unterstützung bestand nicht darin, im Rahmen eines Konflikts mit dem türkischen Staat auch Anschläge gegen die Zivilbevölkerung zu verüben und diese damit einzuschüchtern, sondern die kurdische Zivilbevölkerung in Syrien bzw. im Irak gegen die Angriffe des IS zu beschützen und diese damit vor Vertreibung, Entführungen, Vergewaltigung, Versklavung, Hinrichtungen und Unterdrückung zu bewahren, wie sie beispielsweise die Bevölkerung von Sindschar ab August 2014 erleiden musste.”
Die Richter in Bellinzona sprachen dem Betroffene zudem eine Entschädigung in Höhe von 2.000 Schweizer Franken, umgerechnet etwa 1.840 Euro zu. Ob das Urteil des Bundesstrafgerichts in der Schweiz neue Perspektiven und Ansätze in den hiesigen Ermittlungsbehörden eröffnet, bleibt allerdings zu bezweifeln.