Protest gegen Massaker verboten: 15 Festnahmen in Istanbul

Seit sieben Jahren kommen Hinterbliebene der Opfer des IS-Anschlags von Pirsûs jeden 20. eines Monats in Istanbul zusammen, um ihrer Liebsten zu gedenken und Gerechtigkeit einzufordern. Heute wurden sie zum wiederholten Mal von der Polizei angegriffen.

Bei einer geplanten Kundgebung in der westtürkischen Metropole Istanbul sind am frühen Sonntagabend fünfzehn Mitglieder der „Initiative der Suruç-Familien“ teilweise gewaltsam festgenommen worden. Die Polizei begründete ihr Vorgehen mit einem „Demonstrationsverbot“, das aus Anlass der Luftangriffe der Türkei gegen die Autonomiegebiete in Nord- und Ostsyrien und im Nordirak erteilt worden sei. Den Betroffenen droht nun eine Anzeige wegen Verstoß gegen eine behördliche Verordnung.

Die Initiative der Suruç-Familien wollte an diesem Sonntag zum 88. Mal unter dem Motto „Gerechtigkeit für Suruç - Gerechtigkeit für jeden“ ihre Mahnwache in Istanbul durchführen. Dazu trafen sich Mitglieder der Gruppe auf der Einkaufsmeile Halitağa im asiatischen Stadtteil Kadıköy. Die Polizei- und Anti-Aufstands-Einheiten marschierten bereits früh auf und zogen einen Kessel um die Zusammenkunft. Einige Medienschaffende, die zur Begleitung der Kundgebung vor Ort waren, wurden vom Platz entfernt.

Die Aktivist:innen protestierten gegen das Demonstrationsverbot und riefen Parolen wie „Wir verlangen Rechenschaft für Suruç“. Eine Beteiligte verurteilte die Polizeigewalt und erklärte: „Erst werden wir massakriert, dann werden Proteste dagegen verboten“. Auf welche Wache die Festgenommenen gebracht wurden, sagte die Polizei nicht. Es wird erwartet, dass die Betroffenen nach einem Verhör wieder auf freien Fuß gesetzt werden.

Der Anschlag von Suruç

Als Anfang 2015 das nordsyrische Kobanê von den Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ befreit und die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) vertrieben worden war, rief die Föderation der sozialistischen Jugendverbände der Türkei (SGDF) für den 19. bis 24. Juli 2015 zu einer Kampagne zum Wiederaufbau der durch die Dschihadisten zerstörten Stadt auf. Aus mehreren Städten des Landes reisten etwa 300 Jugendliche in die kurdische Grenzstadt Pirsûs (tr. Suruç), um anschließend gemeinsam weiter nach Kobanê einzureisen.

Die von der SGDF geplante Fahrt in die vom IS zerstörte Stadt sollte ein Akt der Solidarität sein. Die Jugendlichen wollten auch Kinderspielzeug und humanitäre Hilfsgüter nach Kobanê bringen. Doch schon im Vorfeld und besonders auf dem Weg nach Pirsûs - viele Jugendliche fuhren mit angemieteten Bussen dorthin - hatte es immer wieder Provokationen mit Festnahmen durch türkische Polizeikräfte gegeben.

Am 20. Juli 2015 kamen die Jugendlichen im Kulturzentrum Amara zusammen. Dort sollte eine letzte Versammlung stattfinden, bevor die „Traumreisenden“ die Grenze nach Kobanê überqueren würden. Um die Mittagszeit verursachte ein Selbstmordattentäter des IS in direkter Umgebung der Zusammenkunft eine schwere Explosion. 33 hauptsächlich junge Menschen verloren ihr Leben, 104 weitere Menschen wurden teils schwer verletzt. Erst mehr als sechs Jahre nach dem Anschlag wurde im Oktober 2021 einer der Drahtzieher des Anschlags verurteilt - als einziger.

Staat in Anschlag verwickelt?

Die Angehörigen der Anschlagsopfer und ihre Verteidigung hatten früh vermutet, dass auch Kräfte innerhalb des Staates in das Attentat verwickelt sein könnten und kritisiert, dass die genauen Umstände der Tat nicht aufgeklärt werden sollen - 2015 war das Land im Schatten der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen von einer ganzen Anschlagsserie überzogen worden. Unter der Herrschaft der AKP wird die Öffentlichkeit über die wahren Hintergründe des Pirsûs-Attentats vermutlich nie wirklich aufgeklärt werden.