Angriffe auf Pirsûs-Gedenken in Ankara, Izmir und Istanbul
In Ankara, Izmir und Istanbul hat die Polizei Gedenkveranstaltungen für die Toten des IS-Anschlags in Pirsûs angegriffen und zahlreiche Menschen festgenommen.
In Ankara, Izmir und Istanbul hat die Polizei Gedenkveranstaltungen für die Toten des IS-Anschlags in Pirsûs angegriffen und zahlreiche Menschen festgenommen.
Die Polizei hat in Ankara, Izmir und Istanbul Gedenkveranstaltungen für die Toten des IS-Anschlags vom 20. Juli 2015 in Pirsûs (tr. Suruç) angegriffen. Es kam zu zahlreichen Festnahmen. Aufgerufen zu dem Gedenken hatte das Bündnis „Jugendorganisationen“.
In Ankara stoppte die Polizei eine Demonstration zum Güvenpark, mit der „Gerechtigkeit für Suruç, Gerechtigkeit für alle“ gefordert wurde. Zahlreiche Teilnehmenden wurden gewaltsam abgeführt.
Auch eine Demonstration in Izmir-Karşıyaka, an der die HDP-Abgeordneten Murat Çepni und Serpil Kemalbay teilnahmen, wurde verboten und angegriffen. Die Menschenmenge löste sich jedoch nicht auf und skandierte: „Der Tag wird kommen, an dem die Zeiten sich ändern und die AKP dem Volk Rechenschaft ablegen muss.“ Als Aktivist:innen die Polizeiabsperrung durchbrechen wollten, kam zu mehreren Festnahmen.
Im Istanbuler Stadtteil Kadiköy gab die aus Angehörigen der Toten und Überlebenden bestehende „Initiative der Suruç-Familien“ eine öffentliche Erklärung auf der Halitağa Caddesi ab. Das Jugendbündnis wollte danach geschlossen zur Süreyya-Oper laufen, um dort eine Gedenkkundgebung abzuhalten. Der Demonstrationszug wurde mit Tränengas gestoppt, einige Demonstrant:innen flüchteten in den HDP-Kreisverband und wurden dort von der Polizei erneut mit Tränengas angegriffen. Die Journalistin Fatoş Erdoğan vom Sender Dokuz Sekiz, die über das Gedenken berichtete, wurde beim Polizeiangriff am Arm verletzt und ins Krankenhaus eingeliefert.
Der Anschlag von Pirsûs
Bei dem Anschlag vor sechs Jahren sind 33 hauptsächlich junge Menschen von einem IS-Attentäter getötet worden, 104 weitere wurden teils schwer verletzt. Der Anschlag ereignete sich, als sich auf Aufruf der Föderation Sozialistischer Jugendvereine (SGDF) 300 junge Menschen im Kulturzentrum Amara versammelten, um vor ihrer Abreise nach Kobanê eine Pressekonferenz abzuhalten. Die geplante Fahrt nach Nordsyrien sollte ein Akt der Solidarität sein. Die Jugendlichen wollten Kinderspielzeug und humanitäre Hilfsgüter in die vom IS zerstörte Stadt bringen.
Mehmet Yapalıal, damaliger Polizeipräsident in Pirsûs, hatte bereits im Vorfeld nachrichtendienstliche Informationen zu dem Attentat erhalten. Am 16. Juni 2015, also etwas mehr als einen Monat vor dem Anschlag, lag dem Ex-Polizeipräsidenten die Einstufung des späteren Attentäters als „aufgrund Terrorismusgefahr gesuchte Person“ vor. Er ist der einzige, der im andauernden Prozess um den Anschlag von Pirsûs bisher verurteilt wurde - allerdings nur zu einer symbolischen Geldstrafe, weil er keine Sicherheitsvorkehrungen in der Stadt traf. Yapalıal zog es vor, gegen die jungen Menschen vorzugehen, die für den Wiederaufbau von Kobanê angereist waren.
KCK: „Vom MIT geplant und ausgeführt“
Die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) macht den türkischen Geheimdienst MIT für den Anschlag verantwortlich. „Diese jungen Menschen wurden nicht vom IS, sondern vom türkischen Staat getötet. Es war die Feindschaft von Tayyip Erdogan und seiner AKP-Regierung gegenüber Rojava, die sie getötet hat. Das Massaker wurde vom MIT geplant und ausgeführt“, heißt es in einer im Juli vergangenen Jahres veröffentlichten Erklärung.
In der Erklärung wird weiter dargelegt, dass in der damaligen Zeit viele Angriffe auf die politische Opposition unter dem Deckmantel des IS durchgeführt wurden. Am 5. Juni 2015 fand ein Anschlag mit mehreren Todesopfern auf eine Wahlkampfkundgebung der HDP statt. Am 25. Juni verübte der IS ein Massaker in Kobanê, bei dem Hunderte Menschen brutal ermordet wurden. Am 20. Juli schließlich kam es zum Anschlag in Pirsûs. Der blutigste Anschlag in der Geschichte der Türkei fand am 10. Oktober 2015 bei einer Friedenskundgebung in Ankara statt, über hundert Menschen kamen ums Leben. „Im Anschluss wurden kurdische Städte angegriffen, Hunderte junge und alte Menschen, Frauen und Kinder wurden getötet, über zehn Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht. Dass all diese Massaker im gleichen Zeitraum stattgefunden haben und die AKP die Opposition angegriffen hat, ist kein Zufall. Alle Angriffe sind das Ergebnis des Zerschlagungsplans, der am 30. Oktober 2014 vom Nationalen Sicherheitsrat beschlossen wurde.“
Die Anschläge seien zwar vom IS verübt worden, der Auftraggeber sei jedoch der MIT gewesen, erklärt die KCK. „Als Erdogan erkannt hat, dass er sich nicht an der Macht halten kann, hat er eine Allianz mit dem IS und der MHP geschlossen. Zuvor waren ohnehin Hunderte Agenten in den IS eingeschleust worden. Der MIT selbst hat in der Türkei Abteilungen eingerichtet, über die neue IS-Mitglieder gewonnen wurden. Zeitgleich hat er aus den weltweit in die Türkei eingereisten IS-Sympathisanten Hunderte Agenten rekrutiert. Auf diese Weise hat die Türkei die Kontrolle über den IS gewonnen. Wer diese Tatsache nicht sieht, kann weder den IS begreifen noch herausfinden, wer die politische Kraft hinter den im Namen des IS begangenen Angriffen war.“