Bei einem mutmaßlich rassistisch motivierten Angriff auf einen Lautsprecherwagen der Grünen Linkspartei (Yeşil Sol Parti, YSP) sind in der südtürkischen Küstenprovinz Mersin fünf Menschen leicht verletzt worden. Ein Parteimitarbeiter erlitt bei der Attacke eine blutende Platzwunde und kam zur Behandlung in ein Krankenhaus.
Der Übergriff ereignete sich am Sonntagnachmittag in der Kreisstadt Tarsus. Das Fahrzeug der YSP habe auf der Einkaufsmeile Atatürk im Stadtteil Yeni Mahalle an einer roten Ampel gehalten, als ein etwa 20-köpfiger Mob aus einem Wahlbüro der ultranationalistischen MHP herausstürmte und zunächst Hasstiraden von sich gab. Die mit Knüppeln und Messern bewaffneten Angreifer schlugen sodann auf den Lautsprecherwagen und fünf der Insassen durch offene Fensterscheiben ein. Zudem zerstachen sie mehrere Reifen.
In dem Fahrzeug befanden sich insgesamt sieben Mitarbeitende der YSP, darunter eine Frau. Der Ortsverband der Partei teilte mit, der Angriff sei von „zahlreich“ in der zentrumsnahen Gegend patrouillierenden Polizisten beobachtet worden, doch eingegriffen wurde demnach nicht. „Es handelt sich hier nicht um ein kleines, auf unterschiedlichen politischen Ansichten gründendes Handgemenge, sondern um einen Lynchversuch. Nur durch die schnelle Reaktion des Fahrers konnte der Lautsprecherwagen in einen sicheren Bereich manövriert werden und unser Team diesem Lynchversuch entkommen“, hieß es in der Mitteilung.
Die Bereitschaftspolizei sei während des Übergriffs nicht nur untätig geblieben, sondern habe sich auch geweigert, eine Anzeige aufzunehmen. Erst im Präsidium von Tarsus seien die Anzeigen entgegengenommen worden, jedoch nur „sehr widerwillig“. „Die Polizei ließ den Mob gewähren und schaute tatenlos zu.“
HDP: Politische Verantwortung bei Herrschenden und Wortführern
Die HDP, die unter dem Banner der YSP zu den Parlaments- und Präsidentenwahlen am 14. Mai antritt, erklärte, die Angriffe und Gewalttaten gegen die Opposition seien geplant und koordiniert. Die politische Verantwortung trügen die Herrschenden und ihre Wortführer, die von Hassrede zu Hassrede schalten würden. Provokation, Eskalation und das Schüren der Angst vor dem erfundenen Feind sollten die Gesellschaft polarisieren, einzelne Gruppen stigmatisieren. „Die Angst der amtierenden Regierung vor der Niederlage gefährdet die Sicherheit der Wählerinnen und Wähler“, betonte die HDP. Zudem verurteilte sie den Angriff auf Ekrem Imamoğlu.
Mindestens neun Verletzte durch Steinwürfe
Bei einem Auftritt von Imamoğlu, dem Oberbürgermeister der Millionenmetropole Istanbul, waren am Sonntag in der Provinz Erzurum (ku. Erzîrom) mehrere Menschen durch Steinwürfe verletzt worden. Der CHP-Politiker sagte in einem am Sonntagabend auf Twitter veröffentlichten Video, eine Gruppe von Menschen habe Steine auf ihn geworfen, als er von dem Dach seines Wahlkampfbusses aus eine Rede gehalten habe. Dabei seien mehrere Zuhörende verletzt worden. Die CHP verbreitete Bilder, auf denen Menschen mit Verletzungen am Kopf zu sehen waren, darunter auch mindestens ein Kind.
Imamoğlu warf der Polizei vor, absichtlich nichts unternommen zu haben. Es handle sich um eine Provokation, mit der die Einwohner:innen von Erzurum nichts zu tun hätten. Auf Videos ist zu sehen, dass der Kundgebungsplatz im Vorfeld mit dutzenden Linienbussen und anderen kommunalen Fahrzeugen der AKP-geführten Stadtverwaltung zugeparkt wurde. Zuvor hatte die CHP bemängelt, dass Behörden versucht hätten, den Auftritt in Erzurum gezielt zu verhindern.
Soylu fordert Einschreiten von Wahlausschuss
Innenminister Süleyman Soylu, der für seine Verbalattacken bekannt ist, schrieb in einer ersten Reaktion auf Twitter: „Ekrem Imamoğlu, der das Volk in Erzurum Provokateure nennt, ist selbst ein Provokateur.“ Im regierungstreuen Sender Ülke TV wiederholte er am Abend seine Äußerungen und wies den türkischen Wahlausschuss (YSK) an, gegen Imamoğlu vorzugehen. Dieser machte sich am Abend noch auf den Weg zurück nach Istanbul. Zahlreiche Anhänger:innen erwarteten ihn am Flughafen Sabiha Gökçen.
Der CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu verurteilte den Angriff auf Twitter und rief Parteimitglieder dazu auf, ruhig zu bleiben. Er warf der Regierung vor, mit der Mafia und Militanten zusammenzuarbeiten und sagte: „Ihr Ziel ist, den Menschen Angst zu machen und sie von den Urnen fernzuhalten.“ Kılıçdaroğlu tritt als gemeinsamer Kandidat des „Sechsertischs“, eine Allianz aus sechs Oppositionsparteien unterschiedlicher politischer Lager, zur Präsidentenwahl an und wird von der HDP und YSP unterstützt. Im Falle eines Sieges über Erdoğan soll Imamoğlu Vizepräsident werden.