Jacob Mirza: Angriffe wie am Ende des Osmanischen Reichs

Der Journalist Jacob Mirza weist darauf hin, dass die Angriffe auf Efrîn alle Völker der Region betreffen. Die Angriffe würden aus Erdoğans Machtverlust resultieren und Erinnerungen an die Phase des Zusammenbruchs des Osmanischen Reichs wecken

Jacob Mirza vom Vorstand des assyrisch-aramäisch-chaldäischen Fernsehsenders Suryoyo TV bewertet gegenüber ANF die Angriffe des türkischen Staates auf Efrîn folgendermaßen:

„Er greift an, weil er weiß, dass er verliert“

Mirza erklärt, Erdoğan habe seine Angriffe aus Angst vor Machtverlust auf die Opposition, insbesondere gegen die HDP und Intellektuelle, verstärkt, nachdem er bemerkt habe, dass die öffentliche Meinung sich gegen ihn zu wenden begann: „Mit Repression, Angriffen und Inhaftierungen kann Erdoğan die gesellschaftliche Opposition nicht stoppen. Selbst seine eigenen Umfragen zeigen, dass er die Wahlen 2019 nicht gewinnen wird.“

Zudem hätten sich die Beziehungen zu den Nachbarländern, den USA, der EU und weiteren Ländern kontinuierlich verschlechtert: „Erdoğan ergriff seine letzte Chance: er konstruierte durch offensichtliche Lügen eine außenpolitische Bedrohung. Mit dieser Begründung startete er die Angriffe auf Efrîn.“

„Man versucht, eine demokratische Struktur zu vernichten“

„Kein Volk, das dort lebt, weder das kurdische, das arabische, das assyrisch-aramäische, das armenische noch das turkmenische Volk haben jemals eine Drohung gegen die Türkei ausgesprochen, das ist allgemein bekannt. Wann haben diese Völker die Türkei bedroht? Bis heute gab es aus dieser Region nicht einen einzigen Angriff auf die Türkei. Im Gegenteil, die Türkei lässt bis heute die IS-Banden immer wieder diese Völker angreifen. Denn der türkische Staat will nicht, dass die Völker von Gozarto (Rojava) sich selbst verwalten und ein gleichberechtigtes und freies System aufbauen und danach leben. Er will die dortigen demokratischen Strukturen vernichten.“

Mirza erklärt weiter, Erdoğan habe den Angriff auf Efrîn gestartet, um aus chauvinistischen, nationalistischen Kreisen Stimmen zu erhalten. Die Situation Erdoğans und der AKP-Regierung erinnere an die Jahre des Untergangs des Osmanischen Reiches und dessen damalige aggressive Politik.

„Die Gesellschaft wird polarisiert“

Mirza weist darauf hin, dass die Angriffe auf Efrîn die Krise in Syrien weiter vertiefen und die Gesellschaft in der Türkei weiter polarisieren würden. Er sagt: „Die heutigen Kurden sind nicht die Kurden von früher, die heutigen Suryoye sind nicht die Suryoye von früher, die Araber von heute sind nicht die Araber von früher. Diese Völker wissen, wenn sie sich untereinander verständigen, können sie für eine Zukunft in Ruhe und Frieden sorgen. Früher hat die Türkei all diese Völker gegeneinander aufgehetzt. 1915 wurden die Kurden gegen die Armenier und Suryoye benutzt. Das haben die Völker des Mittleren Ostens nicht vergessen.“

Er verdeutlicht, dass die demokratischen Kräfte in Efrîn großen Widerstand gegen die Türkei leisten. „Der türkische Staat benutzt all seine Möglichkeiten auf maximalem Niveau. Das zeigt, wie erfolglos und in die Ecke gedrängt er ist. In den türkischen Medien können wir ausnahmslos beobachten, dass die Vertreter der türkischen Regierung eine immer aggressivere Sprache benutzen. Das zeigt, dass ihre Vorhaben nicht in ihrem Sinne verlaufen.“

„Sie haben Angst vor der Einheit der Völker“

Mirza berichtet, dass er oft in Efrîn gewesen sei und von dort berichtet habe. Von seinen Erfahrungen vor Ort erzählt er: „In Efrîn leben sehr viele Kurden. Es gibt nur wenige Suryoye. Ich bin in der Türkei geboren.  Ich erinnere mich seit meiner Kindheit daran, dass Efrîn mit den Kurden identifiziert wurde. Vor Beginn des Krieges war ich oft in Efrîn, zuletzt war ich dort im Oktober 2016. Es handelte sich um eine weit vom Krieg entfernte, ruhige und friedliche Stadt. Kurden, Araber, Turkmenen, Assyrer, Aramäer und Armenier haben dort eine Selbstverwaltung aufgebaut. Dort ist Syrien, warum ist Erdoğan gegen die Selbstverwaltung der dortigen Völker? Weil sich Erdoğan vor der Einheit der Völker und ihrer Selbstverwaltung fürchtet.“

Mirza sagt weiter: „Wir haben mehrfach am Tag Kontakt mit Efrîn. Die Wohnungen, in denen die Zivilbevölkerung lebt, werden bombardiert. Viele Zivilistinnen und Zivilisten sind getötet worden. Die Stadt wird dem Erdboden gleichgemacht.“

„Die Suryoye betrachten diese Angriffe als Angriffe auf sie selbst“

Mirza beschreibt die Haltung der assyrisch-aramäischen Bevölkerung gegenüber den Angriffen: „Sie reagiert sehr scharf darauf. Die Angriffe auf Efrîn rufen die gleiche Reaktion hervor wie der Völkermord von 1915. Die assyrisch-aramäische Bevölkerung betrachtet den Angriff auf Efrîn als einen Angriff auf sie selbst. Fast alle Organisationen ihrer denken so. Deswegen beteiligen sie sich überall an den Protestaktionen.“

„Diplomatische Schritte sind notwendig“

Jacob Mirza meint, dass die Völker von Gozarto (Rojava) in der Diaspora gemeinsame diplomatische Anstrengungen unternehmen müssen. „Viele assyrisch-aramäischen Organisationen, einschließlich der ‚European Syriac Union‘, haben vom ersten Tag an die Angriffe auf die eigene Tagesordnung gesetzt und verurteilt. Es ist jetzt sehr wichtig, gemeinsame Diplomatie-Komitees aufzubauen und zusammen zu arbeiten.“