Istanbul: Kundgebung am 1. Mai auf dem Taksim verboten
Türkische Behörden lassen auch dieses Jahr keine Mai-Demonstrationen auf dem Taksim-Platz in Istanbul zu. Damit setzt sich der Innenminister über ein Urteil des Verfassungsgerichts hinweg.
Türkische Behörden lassen auch dieses Jahr keine Mai-Demonstrationen auf dem Taksim-Platz in Istanbul zu. Damit setzt sich der Innenminister über ein Urteil des Verfassungsgerichts hinweg.
Der türkische Innenminister Ali Yerlikaya hat Kundgebungen zum Tag der Arbeit am 1. Mai auf dem Taksim in Istanbul verboten. Eine entsprechende Anordnung sei zuvor bereits vom Gouverneur der Metropole erlassen worden, sagte Yerlikaya am Montag zu Presseleuten in Istanbul und echauffierte sich über Gewerkschaftsverbände, die trotz Verbotsverfügung weiterhin zur Mai-Demonstration auf dem Platz in der Innenstadt Istanbuls aufriefen. „Ihnen wurde mitgeteilt, dass der Taksim für Versammlungen nicht geeignet ist“, sagte Yerlikaya. Dennoch habe man festgestellt, dass neben Konföderationen und einzelnen Gewerkschaften auch „terroristische Vereinigungen“ auf den Taksim-Platz mobilisieren. „Wir werden niemals zulassen, dass Terrororganisationen die Feierlichkeiten zum 1. Mai als Propagandafeld missbrauchen“, so der Minister.
42.000 Polizisten am 1. Mai in Istanbul
Insgesamt elf Versammlungen sollen stattfinden, die beim Gouverneursamt von Istanbul als Kundgebungen und Demonstrationen angemeldet wurden. Um den 1. Mai in der Metropole „in einem Umfeld des Friedens und der Sicherheit“ zu begehen, werde es daher auf rund 30 Straßen und Autobahnen Vollsperrungen geben, vor allem im Bereich des Taksim. Laut Yerlikaya werden mehr als 42.000 Polizeikräfte am 1. Mai in Istanbul im Einsatz sein. An über 260 Orten der Metropole sollen zudem Polizeikontrollen eingerichtet werden. Für den Taksim sei lediglich eine Ausnahme vorgesehen: Einer niedrigen Anzahl an Vertreterinnen und Vertretern von Gewerkschaftsverbänden und Arbeiternehmerorganisationen wolle man erlauben, am Denkmal der Republik einen Kranz niederzulegen, Presseerklärungen zu verlesen oder eine Schweigeminute abzuhalten. Für alle anderen gelte am 1. Mai absolutes Versammlungsverbot auf dem Taksim.
Verfassungsgericht: Taksim-Verbot am 1. Mai rechtswidrig
Seit Jahren werden Kundgebungen zum Tag der Arbeit auf dem Taksim untersagt. In den letzten Jahren kam es immer wieder zu Ausschreitungen, als regimekritische Organisationen und Gewerkschaften trotz Verbots versuchten, auf den Platz vorzudringen. Der türkische Verfassungsgerichtshof stellte im vergangenen Dezember fest, dass Verbote von Mai-Demonstrationen auf dem Taksim rechtswidrig sind. „Jedermann hat das Recht, ohne vorherige Erlaubnis an unbewaffneten und friedlichen Versammlungen und Demonstrationen teilzunehmen“, heißt es in dem Urteil mit Verweis auf Artikel 34 der türkischen Verfassung. Dieses Recht gelte erst recht am 1. Mai auf dem Taksim, da dieser Platz für Gewerkschaften und Werktätige eine besondere Bedeutung habe.
Platz spiegelt kollektives Gedächtnis der Werktätigen wider
Am 1. Mai 1977 eröffneten dort Heckenschützen das Feuer auf eine von der Föderation revolutionärer Arbeitergewerkschaften (DISK) organisierten Demonstration mit etwa 500.000 Teilnehmenden. Mindestens 34 Menschen starben, etwa 200 wurden verletzt. Bis heute ist unklar, wer die Täter waren. Darauf geht auch der Verfassungsgerichtshof in seinem Urteil ein: „Die Ereignisse am 1. Mai 1977 auf dem Taksim-Platz haben sich in das soziale Gedächtnis eingebrannt. Nach diesem Tag hat dieser Ort für viele Komponenten der Gesellschaft, im Besonderen für Arbeiter und Gewerkschaften und im Hinblick auf die Mai-Feierlichkeiten, einen symbolischen Wert erlangt“, heißt es im Urteil des Verfassungsgerichts, das sich dazu mit einer Beschwerde von DISK befasste. „Der Taksim ist ein Baustein von Gewerkschaftskultur und spiegelt die Existenz des kollektiven Gedächtnisses der Werktätigen wider. In diesem Sinne hat jeder Mensch, der sich als Teil dieser Kultur versteht, das Recht, am 1. Mai dort zu sein, um die Bedeutung, die der Taksim-Platz zum Ausdruck bringt, unmittelbar zu erleben und die gesammelten Erfahrungen an weitere Generationen weiterzugeben.“
DISK ruft zu Taksim-Demo auf
Mit der neuerlichen Verbotsverfügung setzt sich der Innenminister über das höchste Gericht der Türkei hinweg. Die DISK-Vorsitzende Arzu Çerkezoğlu rief daher am Montag dazu auf, am 1. Mai in jedem Fall auf dem Taksim-Platz zu demonstrieren: „Wir werden am 1. Mai auf allen Straßen und Plätzen im ganzen Land sein! Am 1. Mai dabei zu sein bedeutet, unseren Willen zum Ausdruck zu bringen, die Räder dieser Ordnung, die sich drehen, um die Reichen reicher und die Armen ärmer zu machen, aufzuhalten und nein zu dieser Ordnung zu sagen. Am 1. Mai auf der Straße zu sein bedeutet, unseren Kampf für Einkommensgerechtigkeit und Steuergerechtigkeit zu verstärken. Am 1. Mai auf der Straße zu sein bedeutet, der Politik Einhalt zu gebieten, die versucht, den Arbeitern, den Werktätigen und dem Volk die Rechnung der Krise mit einer Sparpolitik unter dem Beifall des IWF aufzudrücken. Es geht darum, die Zukunft und das Land zu schützen. Zusätzlich zu dieser historischen und aktuellen Rechtfertigung demonstrieren wir mit unserem Kampf für unsere rechtlichen Errungenschaften, d. h. mit den Entscheidungen der europäischen Gerichte und des Verfassungsgerichts, für unseren Willen, am 1. Mai auf dem Taksim zu sein. (…) Und liebe Freunde, am Morgen des 1. Mai werden wir alle aufstehen und uns auf den Weg machen. Mit unseren Nelken in der einen Hand und dem Urteil des Verfassungsgerichts in der anderen Hand werden wir diese Entscheidung treffen und uns auf den Weg machen. (…) Wir sagen, dass auf dem Taksim-Platz zu sein bedeutet, für unsere Arbeit, unser Brot und unsere Heimatstadt einzustehen, im Gedenken an all unsere Freunde, die wir verloren haben. Am 1. Mai auf den Plätzen zu sein bedeutet, den Willen zu zeigen, die strahlende Zukunft dieses Landes aufzubauen. Im Namen von DISK grüße ich alle mit Liebe und Respekt. Lang lebe der 1. Mai!“
Titelbild: Gewerkschaften und Berufsverbände gedenken der Opfer des Taksim-Massakers, April 2022 (c) ANF