In Istanbul sind erneut Menschen auf die Straße gegangen, um ihren wachsenden Unmut angesichts der Wirtschaftspolitik der AKP-Regierung von Recep Tayyip Erdoğan zu demonstrieren. Die Verbraucherpreise in der Türkei steigen so stark wie zuletzt vor 20 Jahren. Im Dezember sprang die Inflationsrate über die Marke von 30 Prozent und erreicht im Jahresvergleich bei 36,08 Prozent den höchsten Stand seit rund zwei Jahrzehnten. Zu Jahresbeginn kam ein drastischer Anstieg der Energiepreise hinzu. Allein Strom ist in der Türkei zum neuen Jahr um bis zu 125 Prozent teurer geworden. Die Bevölkerung leidet zunehmend unter der Teuerung.
„Deshalb sind wir hier, um den Blick auf das düstere Bild von der Regierung praktizierter Augenwischerei zu lenken“, sagte Azad Aksoy im Namen der Initiative „Kampf dem Mindestleben – für ein menschenwürdiges Leben“ bei der Kundgebung, die vor dem Einkaufszentrum Cevahir im europäischen Stadtteil Şişli durchgeführt wurde. Als jüngsten Betrug ortet Aksoy die Erhöhung des Mindestlohns zum 1. Januar um 50 Prozent. „Diese ist bereits verpufft, obwohl das neue Jahr erst wenige Tage alt ist. Denn die Währung befindet sich weiterhin auf Talfahrt.“ Hintergrund sei unter anderem die Einmischung der Herrschenden in die Geldpolitik der Notenbank. Staatspräsident Erdoğan etwa drängt immer wieder auf niedrige Zinsen und vertritt entgegen gängiger volkswirtschaftlicher Lehre die Ansicht, hohe Zinsen förderten die Inflation.
„Wir als Werktätige, als arbeitende Klasse, fordern nichts Unmögliches, sondern etwas nur allzu Menschliches. Wir wollen ein Leben, in dem wir am Tag nicht ausgebeutet werden und in der Nacht nicht hungrig ins Bett müssen“, sagte Aksoy. Gewiss würden diese Forderungen „auf taube Ohren“ in den Palästen und Parlamentsreihen der Regierenden stoßen. „Aber Rechte werden nicht gewährt, man muss sie erkämpfen. Der Sieg wird auf der Straße errungen. Das ist es, was wir tun. Unsere Ansage an die AKP lautet: Hände weg von unseren Taschen.“ Die Menschenmenge unterstützte die Rede Aksoys mit der Parole: „Nieder mit dem System der Lohnsklaverei!“
Es gebe mittlerweile keine Werktätigen mehr im Land, die sich drei Mahlzeiten am Tag leisten könnten, führte Azad Aksoy weiter aus. „Die tatsächliche Arbeitslosenquote steigt von Tag zu Tag und das geschaffene Arbeitslosenheer wird als Bedrohung für die Arbeitnehmende bei Problemen wie niedrigen Löhnen, langer und prekärer Beschäftigung eingesetzt“, hob Aksoy hervor. Daran anschließend formulierte der Aktivist die Grundforderungen der Initiative:
- Die jüngsten Erhöhungen der Preise für Energie usw. müssen zurückgenommen werden
- Bildung, Transport, Gesundheit, Unterkunft, Heizung, Strom, Trinkwasser, qualifizierte Ernährung sollten kostenlos sein.
- Jeder soll Arbeitsplatz- und Einkommenssicherheit erhalten.
- Es sind nicht Werktätige, die die Krise verursacht haben, aber 85 Prozent des aktuellen Haushalts bestehen aus Steuern, die von ihnen eingezogen werden. Es sollten diejenigen zur Kasse gebeten werden, die die Krise verursacht haben: die Vermögenden.
Widerstand der einzige Weg aus der Krise
„Wer täglich Gewalt, Lügen und Unterdrückung einsetzt, um die kapitale Ordnung aufrechtzuerhalten, wird diese Forderungen nicht erfüllen. Nur durch den gemeinsamen Kampf erreichen wir unsere Ziele und erringen unsere Rechte“, sagte Azad Aksoy weiter. Zum Abschluss der Kundgebung formulierte der Aktivist einen Appell: „Wir rufen Millionen von Menschen auf, die in diesem System keine Zukunft für sich sehen. Es gibt keinen anderen Weg, als uns zu organisieren und für ein Leben zu kämpfen, in dem wir nachts nicht hungrig ins Bett gehen und tagsüber nicht ausgebeutet werden. Den plötzlich erscheinenden und uns aus der Misere rettenden Helden wird es nicht geben. Eine lebenswerte Zukunft kann nur aufgebaut werden, wenn sich alle, denen dieses Elend auferlegt wird, sich erheben und anstrengen. Arbeiterinnen und Arbeiter, Werktätige sollten sich mit revolutionären und sozialistischen Kräften treffen und für die Interessen ihrer Klasse organisieren. Die Gründung von Gewerkschaften, Ausschüssen und Versammlungen an jedem Arbeitsplatz, in jeder Nachbarschaft, jedem Wohnheim, jeder Schule, und die Teilnahme am Kampf ist der erste, aber große Schritt, um unsere Rechte durchzusetzen und die Lebensrealitäten zugunsten von Arbeitenden, Studierenden und Frauen zu verändern.“