„Hungerstreikende haben kritische Schwelle längst überschritten“

Als Mitglied des Zentralrats der türkischen Ärztekammer erklärt Dr. Samet Mengüç, dass Leyla Güven und die anderen Gefangenen im Hungerstreik die kritische Schwelle längst überschritten haben.

Die HDP-Abgeordnete Leyla Güven befindet sich seit 100 Tagen im Hungerstreik. 301 Gefangene aus PKK und PAJK streiken ebenfalls in den Gefängnissen. Hinzu kommen Dutzende kurdische Aktivistinnen und Aktivisten, die sich draußen der Aktion angeschlossen haben.

„Jederzeit kann alles passieren!“

Dr. Samet Mengüç ist Verantwortlicher für Menschenrechte im Zentralrat der türkischen Ärztekammer (TTB). Er erklärte gegenüber ANF, dass bei Leyla Güven die kritische Schwelle schon längst überschritten sei. Die kurdische Politikerin wurde am Mittwoch wegen akuter Verschlechterung ihres Gesundheitszustands in Krankenhaus eingeliefert, verweigerte dort jedoch jegliche medizinische Behandlung. Mengüç wies darauf hin, dass sich Güven bereits seit mehr als drei Monaten im Hungerstreik befindet und nach dem 90. Tag „jederzeit alles“ passieren könne.

Mengüç hat Erfahrung mit Hungerstreiks. Er hat den Hungerstreik gegen die Einführung der F-Typ-Gefängnisse in den Jahren 1999 und 2000 genau verfolgt. Damals haben 122 Gefangene ihr Leben verloren. Auch den nächsten breit angelegten Hungerstreik im Jahr 2012 hat der Arzt beobachtet. Er sagt: „Wir sind eines der Länder mit den meisten Erfahrungen in Sachen Hungerstreik.“

Der Hungerstreik sei für Mediziner insgesamt eine sehr beunruhigende Angelegenheit und eine medizinische Beteiligung in einem solchen Prozess unvermeidlich. In diesem Sinne habe eine jede Person, die einen Hungerstreik beginne, medizinische Unterstützung nötig und diese Unterstützung könne nur über Ärzte erfolgen. Die Ärzte seien dazu verpflichtet, in dem Maß, wie es den Forderungen des Hungerstreikenden entspricht, zu intervenieren, wenn allerdings die medizinische Hilfe zurückgewiesen wird, sind den Mediziner die Hände gebunden.

„Nach 40 Tagen beginnt der körperliche Verfall“

Der Arzt erklärt: „Da die Menschen im Hungerstreik nicht die notwendigen Nahrungsmittel aufnehmen, beginnt im Körper ein Zerfallsprozess. Dieser Prozess wirkt sich besonders schnell auf Kinder, Alte, Menschen mit chronischem Diabetes, Bluthochdruck, Lungen- und Herzproblemen aus. Bei jedem, der die Schwelle von 40 Tagen überschreitet, beginnt der körperliche Verfall. Zunächst wird das Fettgewebe verbrannt, dann die Proteine. Proteine sind eines der Hauptmaterialien, aus denen sich die Muskelmasse zusammensetzt. Aus diesem Grund löst sich zunächst das Fettgewebe auf, dann die Muskelmasse.“ Im fortgeschrittenen Hungerstreik werden dann auch die Knochen angegriffen.

„Fünf Nährstoffe sind absolut notwendig“

In einer solchen Phase ist die tägliche Aufnahme von Wasser, Zucker, Salz aber auch Vitamin B1 zur Selbsterneuerung des Nervensystems absolut notwendig. Damit der Körper nicht ins Ungleichgewicht gerät, sind Kohlenhydrate ebenfalls unabdingbar. Die Versorgung mit diesen fünf Grundnährstoffen muss unbedingt gewährleistet werden. Insbesondere diejenigen, die schon länger als 40 Tage im Hungerstreik sind, laufen ansonsten Gefahr schwere Infektionen zu bekommen.

„Klagen wegen Nichtaushändigung von Vitamin B1 haben zugenommen“

Die langen Hungerstreiks können unumkehrbare Folgen haben, sagt Mengüc und berichtet vom Wernicke-Korsakoff-Syndrom als häufigste Folge. Die Hauptursache für das Korsakoff-Syndrom ist die Unfähigkeit der Nerven, sich selbst zu erneuern und zu versorgen. Dies hänge vor allem mit einem langfristigen Mangel an Vitamin B1 zusammen, das einen solchen Zerfallsprozess verhindert.

Mengüç berichtet von vielen schriftlichen Beschwerden von Angehörigen oder von den Gefangenen selbst an die Ärztekammer, weil den Hungerstreikenden in den Gefängnissen die B1-Präparate nicht ausgehändigt werden. Die hungerstreikenden Gefangenen werden nicht mit den Grundnährstoffen versorgt. Aufgrund dieser Rechtsverletzung hat sich der Arzt an das Justizministerium, das Gesundheitsministerium und die Gefängnisverwaltungen gewandt und diese Situation öffentlich gemacht.

Als Mediziner könne man keine Hungerstreiks unterstützen, aber man sei dafür verantwortlich, dass die medizinische Versorgung eines jeden Menschen, der aus seinem freien Willen in den Hungerstreik tritt, sichergestellt ist und dafür zu sorgen, dass er diesen Prozess so mit wenig wie möglich oder - wenn möglich - ganz ohne Schäden übersteht.

Die Arbeit der Ärztekammer

Die TTB hat Informationsschreiben mit Handlungsempfehlungen für Mediziner bei Hungerstreiks an Ärztinnen und Ärzte verteilt. Außerdem wurden diese Schreiben, nationale und internationale Dokumente und Erklärungen, dass Menschen im Hungerstreik ganzheitlich betrachtet werden müssen, insbesondere an Gefängnismediziner, die Gefängnisbehörde, die Generalstaatsanwaltschaft und die Anwaltskammer versandt.

„Es müssen unabhängige Delegationen gebildet werden“

So sehr auch behauptet wird, man käme der Versorgung der hungerstreikenden Gefangenen nach, so weisen doch die massenhaft ankommenden Beschwerden auf das Gegenteil hin, sagt Mengüç und fordert, dass die Versorgung der hungerstreikenden Gefangenen von unabhängigen Delegationen kontrolliert werden müsse. Man habe an die Behörden, ans Justiz- und Gesundheitsministerium immer wieder entsprechende Anträge gestellt und trotz gegenteiliger Versprechungen sei nichts passiert.

Mengüç betonte, dass das Vorenthalten von Vitamin B1 für Hungerstreikende eine Straftat darstellt. Er fuhr fort: „Wenn absichtlich bei hungerstreikenden Gefangenen von der Gefängnisverwaltung, dem Gefängnisarzt oder von den aufsichtführenden Regierungsvertretern die Deckung ihres Grundbedarfs verhindert wird, handelt es sich dabei um eine Straftat.“ Im Namen der TTB forderte Dr. Samet Mengüç erneut in den Prozess einbezogen zu werden und erklärte: „Die Zunahme der Hungerstreiks und die Verlängerung ihrer Dauer zeigen, dass uns eine sehr negative Zeit erwartet.“