Mithat Sancar hat sich als Ko-Vorsitzender der Demokratischen Partei der Völker (HDP) zu den aktuellen Entwicklungen in der Coronakrise geäußert. Seine Stellungnahme wurde aus seiner Wohnung in Ankara live auf Twitter übertragen. Zuvor hat der zentrale Exekutivrat der HDP getagt.
Der HDP-Vorsitzende kritisierte, dass die türkische Regierung nicht auf die Corona-Pandemie vorbereitet gewesen sei. Zu Beginn des Pandemieausbruchs in der Türkei sei die Angelegenheit nicht ernst genommen worden, aus diesem Grund seien viel zu spät Maßnahmen eingeleitet worden.
„Heute ist die Türkei eines der Länder, in denen die Virusausbreitung rasant voranschreitet. Und warum? Es gibt keine Strategie in der Gesundheitspolitik. Seit dem ersten bestätigten Infektionsfall sind drei Wochen vergangen und es ist offensichtlich, was die Regierung seitdem getan und unterlassen hat. Sie ist mit Vorschlägen in die Öffentlichkeit getreten, die einen Zufluss an Mitteln für das Kapital bedeuten. Diese sind ins Parlament eingebracht und verabschiedet worden“, so Mithat Sancar. Notwendig seien jedoch vielmehr Mittel, die es den Menschen ermöglichten, im häuslichen Umfeld zu bleiben.
Keine Transparenz, falsche Prioritäten
Der HDP-Vorsitzende bemängelte die fehlende Transparenz und den Zentralismus in der Regierungspolitik zur Coronakrise und kritisierte, dass alle öffentlichen Mittel in die Gesundheit der Gesellschaft hätten investiert werden müssen. Stattdessen seien Gelder weiter in andere Projekte geflossen: „Insbesondere wurde versucht, das als Fass ohne Boden bekannte Kanal-Istanbul-Projekt umzusetzen. Das ist ein Beispiel großer Verantwortungslosigkeit.“
Mobilmachung der HDP
„Als HDP haben wir am ersten Tag eine Krisenkoordination gebildet, in der Parteikolleg*innen aus verschiedenen Bereichen vertreten sind. Angebunden an diese Krisenkoordination arbeiten Fachkommissionen zu Themen wie Wirtschaft, Sozialpolitik, Migranten und Gesundheit. Ihre Berichte werden veröffentlicht. Da sich die Regierung ein Monopol über die Medien gesichert hat, besteht jedoch ein großes Handicap. Wir haben Schwierigkeiten, unsere Meinung einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.“
Muttersprachliche Aufklärung
„Darüber hinaus wird verhindert, das Recht auf muttersprachliche Informationen zu nutzen. Das ist ein großes Problem“, sagte der HDP-Vorsitzende und verwies auf die Absetzung der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in acht weiteren von seiner Partei geführten Rathäuser in der vergangenen Woche. In der Provinzhauptstadt Êlih (Batman) war eine der ersten Amtshandlungen des nach der Suspendierung der gewählten Ko-Bürgermeister*innen eingesetzten Zwangsverwalters, den kurdischsprachigen Service auf der Internetseite des Rathauses zu löschen. „Wir haben eine kurdische Aufklärungskampagne gestartet und bemühen uns auch in anderen Sprachen wie Aramäisch, Armenisch und Arabisch Informationen zu verbreiten“, sagte Sancar.
Wovon sollen die Menschen leben?
Ein dringendes Problem in der Türkei ist laut Sancar, dass die Bevölkerung zwar dazu aufgerufen wird, zu Hause zu bleiben, aber viele Menschen aus finanziellen Gründen gar nicht dazu in der Lage sind. „Wie sollen die Menschen ohne ein ausreichendes Einkommen ihren Lebensunterhalt finanzieren? Wie können sie sich um ihre Gesundheit und ihre Ernährung kümmern? Das sind sehr berechtigte Fragen und die eigentliche Verantwortung liegt bei der Regierung, denn sie hält die öffentlichen Mittel in der Hand. Das gesamte öffentliche Budget gehört der Gesellschaft und muss zu ihrem Wohle verwendet werden.“ Ein erster Schritt sei die Finanzierung bezahlter Urlaube, so der HDP-Vorsitzende.
Krisenzentrum und Wissenschaftsrat als Alternative
Mithat Sancar rief dazu auf, Solidaritätsnetzwerke in Stadtvierteln und Dörfern zu gründen, um Bedürftige zu unterstützen. Weiter forderte er die Einbindung der Ärztekammer und von Gewerkschaften in die Pandemiebekämpfung. Der HDP-Vorstand hat auf seiner heutigen Sitzung über die Einrichtung eines alternativen Krisenzentrums diskutiert. „Wir dürfen die Zukunft der Gesellschaft nicht der willkürlichen und falschen Regierungspolitik überlassen. Von diesem Denken müssen wir uns lösen. Alle Berufsorganisationen und Einrichtungen, die einen Beitrag leisten können, sollten ihre Vorbereitungen treffen und ein gemeinsames landesweites Krisenzentrum bilden. Zu dieser Frage haben bereits Gespräche stattgefunden, aber wir müssen jetzt endlich auf den Punkt kommen. Ich hoffe, wir können unsere Arbeit in dieser Woche auf eine konstruktive Ebene bringen. Auf unserer Sitzung haben wir außerdem über die Aufgabenverteilung für den Aufbau eines alternativen Wissenschaftsrats gesprochen und werden sofort damit beginnen.“