Die Zahl der Corona-Fälle (Sars-CoV-2) weltweit steigt unvermindert an. Und auch immer mehr Beschäftigte im Gesundheitswesen infizieren sich mit dem Erreger, der die neuartige Lungenkrankheit Covid-19 auslöst. Rund um den Globus werden Forderungen laut, dem Schutz der Berufsgruppen im Gesundheitsbereich höchste Priorität einzuräumen. Die Maßnahmen für Krankenhäuser reichen nicht aus, immer mehr Ärzte und Krankenpersonal sterben an den Folgen einer Corona-Infektion.
Auch in der Türkei verbreitet sich das Coronavirus rasant. Die Regierung versichert der Bevölkerung, alles unter Kontrolle zu haben. Doch Ärzte berichten von enormen Versäumnissen bei der Virusbekämpfung und verweisen darauf, dass selbst bei Corona-typischen Symptomen zu wenig getestet werde – sowohl bei der Bevölkerung als auch bei Beschäftigten im Gesundheitswesen. Und das obwohl bereits bei etlichen Ärzten, Spezialisten und Pflegekräften Infektionen nachgewiesen wurden. Dies deutet auf eine sehr hohe Dunkelziffer hin. Wir haben mit Gönül Erden, der Ko-Vorsitzenden der Gewerkschaft SES (Gewerkschaft der Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen) gesprochen. Sie berichtet ausführlich über die Situation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in medizinischen und pflegerischen Berufen im Kontext der Covid-19-Pandemie.
In der Presse und den sozialen Medien wird von vielen Problemen der Menschen im Gesundheitssektor berichtet. Wie ist die aktuelle Lage und was ist der drängendste Bedarf?
Am dringendsten wird Ausstattung zum persönlichen Schutz benötigt. Der Mangel an Schutzausrüstung stellt das größte Problem dar. Es geht dabei nicht nur um Handschuhe und Mundschutz. Die notwendige Ausrüstung hängt von der konkreten Tätigkeit ab. Manchmal werden Gummihandschuhe und Atemschutzmasken benötigt, dann wiederum chirurgische Masken oder keimundurchlässige Schürzen, Overalls aus festerem Material und Schutzbrillen. Aber uns erreichen aus den Krankenhäusern Nachrichten, dass dort Schutzausrüstung praktisch kaum vorhanden ist. Das ist für die dort arbeitenden Menschen lebensgefährlich. Wir sagen es immer wieder, ohne die Beschäftigten im Gesundheitswesen zu schützen ist es nicht möglich, die Gesundheit der Gesellschaft zu schützen. Dies gilt insbesondere für die aktuelle Situation. Jeder dieser Menschen braucht ausreichend Schutzausrüstung. Wenn wir dies angesichts des Rechts auf Schutz am Arbeitsplatz nach Paragraph 6331 und den von der WHO veröffentlichten wissenschaftlichen Daten unter dem Gesichtspunkt des „Schutzes des Rechts auf Leben“ betrachten, dann ist das auch in der Türkei eine zwingende verfassungsmäßige Notwendigkeit, die umgehend erfüllt werden muss.
Und welche weiteren Probleme gibt es?
Darüber hinaus fehlt es an Menschen, die im Gesundheitsbereich arbeiten. Im Gesundheitssystem gab es zuvor schon eine Mindestbesetzung. Aber mit der Covid-19-Pandemie vertieft sich dieses Problem kontinuierlich. Sowohl Wissenschaftler als auch die Weltgesundheitsorganisation unterstreichen immer wieder: Die Schichtzeiten müssen ebenso wie die Arbeitsbelastung reduziert, die Pausen verlängert, Überstunden abgeschafft und 24-Stunden-Schichten verboten werden. Um dies umzusetzen, ist ausreichendes Personal notwendig. Aber heute gibt es hier einen sehr großen Mangel.
Es wurde immer wieder über Entlassungen durch Notstandsdekrete gesprochen, aber es hieß auch immer wieder, dass 32.000 neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingestellt werden sollen. Was sagen Sie dazu?
Das Ministerium hat von von 32.000 Neueinstellungen gesprochen, das stimmt. Wir vertreten aber von Anfang an die Position, dass der tatsächliche Bedarf festgestellt werden muss. Wir fordern, dass alle Organisationen im Gesundheitsbereich in diesen Prozess mit einbezogen werden, um tagesaktuelle Planungen durchführen zu können. Es muss klar ermittelt werden, in welchem Bereich Mitarbeiter fehlen. Auf der Grundlage dieser Feststellung müssen schnelle, aber auch sichere Anstellungen mit Beamtenstatus erfolgen. Denn die 32.000 Personen werden per Vertrag angestellt. Das ist nicht richtig. Wir sagen schon von Anfang an, dass es bereits jetzt Hunderttausende gibt, die nicht als Beamte angestellt wurden und praktisch draußen warten, um diese Lücke zu füllen. Wir haben Kollegen, die per staatlicher Verordnung entlassen worden sind. Das sind erfahrene Mediziner, deren Entlassungen rechtswidrig waren. Auch unabhängig von Covid-19 müssen sie ihre Stellen wiedererhalten. Und es gibt tausende junge Kollegen, die wegen Sicherheitsfragen keinen Beamtenstatus erhalten.
Das Ausmaß der Tests ist ein immer wieder diskutiertes Thema. Wie weit sind diese Tests bei Beschäftigten im Gesundheitswesen verbreitet?
Die Zahl der täglichen Covid-19-Tests in der Türkei ist sehr gering. Am Anfang waren es durchschnittlich 3.000, jetzt sind es um die 7.000. Diese Testrate reicht in keiner Weise aus, um das Coronavirus zu bekämpfen. Die schnelle Verbreitung stellt den kritischsten Punkt der Seuche dar. Daher ist es wichtig, massenhaft Tests durchzuführen, die Infizierten zu ermitteln und sie zu isolieren. Nur so kann die Ausbreitung gestoppt werden. Während eigentlich die Zahl der Tests erhöht werden müsste, haben auch unsere Kollegen hier massive Probleme. Sie befinden sich in permanenten Kontakt mit Covid-19-Erkrankten und Verdachtsfällen. Aber leider werden sie kaum getestet. Nur sehr wenige Gesundheitsbedienstete konnten sich testen lassen. Erkrankte oder Mitarbeiter, die mit ihnen im Kontakt stehen, müssen eigentlich zu Hause oder an einen anderen Ort in Quarantäne untergebracht werden. Aber auch das passiert nicht. Das stellt sowohl für das Krankenpersonal eine gesundheitliche Gefahr dar als auch für deren Umfeld. Das Ansteckungsrisiko steigt so sowohl für die gesamte Belegschaft als auch für Patienten an, die nicht mit dem Coronavirus infiziert sind. Deswegen müssen diese Menschen unbedingt getestet werden. Da diese Maßnahmen jedoch nur in äußerst unzureichender Weise ergriffen wurden, sind viele Mitarbeiter im Gesundheitswesen seit der Feststellung des ersten Covid-19-Falls vor etwa zweieinhalb Wochen positiv getestet worden. Einigen von ihnen geht es sehr schlecht. Auch das Gesundheitsministerium hat einige dieser Fälle inzwischen eingeräumt. Dies dokumentiert, wie wenig ausreichend die aktuellen Maßnahmen sind.
Haben die Krankenhäuser für den Fall einer Ausweitung der Pandemie ausreichende Kapazitäten?
Wir bemühen uns mit aller Kraft darum, die Seuche unter Kontrolle zu bekommen. Unsere Hauptaufgaben sind es, die Geschwindigkeit der Ausbreitung der Seuche zu verlangsamen, bei den Erkrankten irgendwie für Linderung zu sorgen und die Todesrate zu senken beziehungsweise auf null zu bringen. Dies ist der einzige Grund unserer Kritik. Wir hoffen, dass es mit der Seuche nicht so rapide weitergeht wie bisher, aber wir beobachten einen rasanten Anstieg neuer Infektionen seit dem 11. März. Diese Situation besorgt die Wissenschaft enorm. Wenn es so schnell weitergeht, werden wir demnächst nicht mehr die einzigen sein, die sagen, dass die Kapazitäten der Krankenhäuser für die schwererkrankten Corona-Patienten nicht ausreichen werden. Jede Person wird diese Tatsache feststellen können. Weder die Zahl der Betten noch die Plätze auf den Intensivstationen und auch nicht die vorhandenen Beatmungsgeräte reichen aus. Es wird zu immensen Problemen kommen.
Wie ist die Lage in den privaten Krankenhäusern?
Die Erklärung des Vorsitzenden des Verbands der privaten Krankenhäuser OHSAD, Dr. Reşat Bahat, führt die Situation eigentlich vor Augen. Ziemlich unzensiert sagte er, dass sie sich in einer ausweglosen Situation befinden. Er erklärte: „Der Staat soll uns übernehmen, die Löhne unserer Mitarbeiter während der Pandemie bezahlen und den notwendigen Bedarf decken. Er soll all unsere Krankenhäuser nutzen. Denn in diesem Zustand können wir nichts erreichen.“ Das ist ein dringender Appell und macht die Situation in den privaten Krankenhäusern deutlich. Wenn wir uns die Situation an den privaten wie auch den staatlichen Krankenhäusern und Universitätskliniken ansehen, stellen wir fest, dass es überall an Beschäftigten, Mitteln und Ausrüstung fehlt. Dass die bisherige Gesundheitspolitik nicht mit der Krise fertig wird, ist ein entscheidendes Ergebnis dieser Situation. Mit dieser Pandemie bricht die Gesundheitspolitik der Türkei zusammen.