Gergerlioğlu: „Lasst die Mediziner arbeiten“

Der HDP-Abgeordnete Ömer Faruk Gergerlioğlu ist Arzt und gehört zu den 15.000 Fachkräften im Gesundheitssektor, die aus politischen Gründen aus dem öffentlichen Dienst entlassen worden sind. Er fordert eine Umkehr in der türkischen Gesundheitspolitik.

Während die Anzahl der Covid-19-Fälle in der Türkei ansteigt, kritisieren Experten die unzulänglichen Schutzmaßnahmen. Angesichts der zu erwartenden Katastrophe wäre der erste notwendige Schritt, die 15.000 öffentlich Beschäftigten aus dem Gesundheitssektor und die Wissenschaftler wieder einzustellen, die nach dem Putschversuch im Juli 2016 entlassen worden sind. Trotz des dringenden Bedarfs nach erfahrenem Personal hat die Regierung lediglich angekündigt, 32.000 Stellen in der Gesundheitsversorgung neu zu besetzen. Zur Frage der über Notstandsdekrete Entlassenen wird kein Schritt gesetzt.

Der HDP-Abgeordnete Ömer Faruk Gergerlioğlu beschäftigt sich seit Jahren mit dieser Frage und weist auf die Dringlichkeit hin, die durch die Corona-Pandemie entstanden ist: „In der Türkei fehlt es ohnehin an Personal im Gesundheitsbereich. 15.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Gesundheitssektor, darunter Ärzte und Notfallmediziner, sind entlassen worden. Jetzt findet eine Pandemie statt und das Gesundheitsministerium agiert viel zu langsam. Seit dem 10. März brennt diese Frage unter den Nägeln, aber das Ministerium weiß nicht, wie es reagieren soll. Es findet eine Sitzung nach der anderen statt, aber das alles kommt zu spät und da es kein qualifiziertes Personal gibt, bleiben alle Maßnahmen unzureichend.“

Die ganze Welt sucht nach Ärzten und Pflegekräften

Der HDP-Abgeordnete meint, dass Fachärzte viele Menschen vor dem Tod retten könnten: „Unter den Entlassenen gab es viele Fachkräfte für Intensivbehandlungen von Erwachsenen und Kindern. Es gab Wissenschaftler, die weltweit in Fachzeitschriften zitiert wurden und jetzt notgedrungen nicht aktiv werden können. Darüber hinaus sind einige Ärzte im Gefängnis. Ich kenne viele Menschen im Gefängnis, die Experten auf ihren Gebieten waren. Sie könnten jetzt vielleicht viele Menschenleben retten, stattdessen sitzen ungerechtfertigte Strafen ab.

Anstatt jetzt darüber nachzudenken, wie diese Fachleute genutzt werden könnten, bewegen wir uns im Kampf gegen die Pandemie auf einen Abgrund zu. Die 15.000 Beschäftigten aus dem Gesundheitssektor müssen dringend wieder eingestellt werden. In Spanien, England, Deutschland und Norwegen werden berentete oder in andere Bereiche abgewanderte Fachkräfte zur Rückkehr aufgerufen. Die USA laden Fachpersonal aus der ganzen Welt ein und versprechen alles, damit sie die Pandemie im Land bekämpfen.

In unserem Land hingegen warten wir immer noch darauf, dass 15.000 erfahrene Fachkräfte wieder arbeiten dürfen. Einige haben zwanzig oder dreißig Jahre Berufserfahrung. Ich bin selbst einer dieser entlassenen Ärzte. Ich bin Facharzt für Brusterkrankungen und habe 29 Jahre gearbeitet. Wenn ich nicht Politiker geworden wäre, wäre ich jetzt ein per Notstandsdekret in den Zwangsruhestand geschickter Arzt.“

Infizierte Ärzte und Pflegekräfte

„Viele Beschäftigte im Gesundheitssektor haben sich bereits mit dem neuartigen Coronavirus infiziert. Ich habe von mehreren Fällen erfahren, aber sie werden vom Gesundheitsministerium verheimlicht. Dabei ist das ein sehr wichtiges Thema, weil ohnehin ein Fachkräftemangel herrscht und Mediziner und Fachkräfte in dieser Zeit unter einem hohen Risiko stehen“, sagt Ömer Faruk Gergerlioğlu und erinnert an den Fall des Arztes Mustafa Ulaşlı:

„Er ist der einzige Corona-Experte in der Türkei und kann in keiner Weise etwas beitragen, weil er per Dekret entlassen worden ist. Er selbst sagt, dass er gar nicht wieder in den öffentlichen Dienst aufgenommen werden muss und in dieser Zeit einfach nur arbeiten will, weil er Experte in der medizinischen Genetik und Virologe ist. Vor einer Woche habe ich mit dem Gesundheitsminister gesprochen und er hat zugesagt, Mustafa Ulaşlı einzuberufen. Bisher ist jedoch nichts passiert. Das ist eine Schande. Ein Akademiker, der nicht nur für die Türkei, sondern für die ganze Welt an der Entwicklung eines Impfstoffes mitarbeiten könnte, bleibt untätig, weil er per Dekret zur Untätigkeit verdonnert worden ist.“

Fachleute zumindest ausreisen lassen

Der HDP-Abgeordnete fordert, dass die aus politischen Gründen aus dem öffentlichen Gesundheitssektor Entlassenen zumindest eine Ausreisegenehmigung bekommen müssen, wenn sie in der Türkei nicht arbeiten dürfen: „Dr. Mustafa Ulaşlı muss wenigstens einen Pass bekommen, damit er in den USA für die Menschheit tätig werden kann. Wer per Dekret entlassen wurde, bekommt ja keinen Pass. Wenn all diese Oppositionellen, Kurden und Türken, als Aussätzige betrachtet werden, sollten sie wenigstens weggehen dürfen. Unseren Recherchen zufolge wollen sowieso 91,2 Prozent der Betroffenen das Land verlassen.“