Seit den verheerenden Erdbeben im Grenzgebiet der Türkei und Syriens ist bereits eine Woche vergangen. Die Zahl der Toten in beiden Ländern ist auf mehr als 37.500 gestiegen, über 85.000 Menschen wurden verletzt. Die Türkei hat die internationale Gemeinschaft um Hilfe gebeten, in Syrien kommen Rettungskräfte und Hilfsgüter nur schleppend an. Zwar vermeldete die syrische Staatsagentur Sana, dass Hilfsgüter aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, dem Iran und dem Oman in Damaskus eintrafen. Diese werden jedoch nur in den Regime-Gebieten helfen, vor allem in Aleppo. Besonders betroffen von der Katastrophe sind aber auch die dschihadistisch-türkisch beherrschten Regionen Idlib und Efrîn sowie angrenzende Gebiete der multiethnischen Autonomieverwaltung (AANES). Staatliche Hilfen sind dort allerdings kaum erwartbar. Im Syrien-Krieg ist jede Unterstützung politisch.
Forderungen an das Assad-Regime sind nutzlos
Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) fordert deshalb die Öffnung aller Grenzübergänge aus der Türkei nach Nordsyrien, insbesondere nach Efrîn. Hilfsorganisationen, Medienschaffende und unabhängige Beobachtungsmissionen müssten uneingeschränkten Zugang zu allen Betroffenen im Katastrophengebiet bekommen. „In den vergangenen fünf Jahren durften nur Waffen für islamistische Söldner die Grenze passieren. Das muss sich schleunigst ändern“, forderte Dr. Kamal Sido, Nahostexperte der GfbV, am Montag in Göttingen. „Forderungen an das Assad-Regime in Damaskus sind dabei nutzlos. Es kontrolliert diese Grenze nicht. Nur die Türkei kann Hilfslieferungen durchlassen oder blockieren.“
Erste UN-Lieferung erst Tage nach Katastrophe
Derzeit ist der Grenzübergang Bab al-Hawa von der Türkei nach Idlib der einzige geöffnete Übergang für Hilfslieferungen nach Syrien. Die erste Lieferung von UN-Hilfsgütern kam am Donnerstag über Bab al-Hawa – und damit erst drei Tage nach der Erdbebenkatastrophe vom vergangenen Montag. Am Freitag folgte ein weiterer Konvoi mit 14 Lastwagen unter anderem mit Material für Unterkünfte wie Zelte. Am Samstag überquerten dort 22 weitere Lastwagen die türkisch-syrische Grenze mit Gütern unter anderem von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und dem UN-Kinderhilfswerk Unicef. Nach internationaler Kritik in den vergangenen Tagen haben die Vereinten Nationen inzwischen Versäumnisse bei der Hilfe in der Erdbebenregion eingeräumt. Man habe die Menschen „im Stich gelassen“, schrieb der UNO-Nothilfekoordinator Martin Griffith am Sonntag auf Twitter.
Besatzungstruppen beschlagnahmen Hilfsgüter
Die GfbV erreichten zudem weiter Berichte aus Efrîn, dass die türkische Besatzungsmacht und ihre Söldner Hilfsgüter für Gebiete in der Autonomieregion beschlagnahmen. Unabhängige Beobachter:innen müssten in die Region gelassen werden, um diese Berichte zu überprüfen, fordert Sido. Hinzu kommen andauernde Angriffe der Türkei auf Gebiete der AANES. So war bereits kurz nach dem Erdbeben die Stadt Tel Rifat im Kanton Şehba, wo ungefähr 15.000 Menschen aus Aleppo in den letzten Tagen Zuflucht gesucht haben, von der türkischen Armee bombardiert worden. Şehba gilt als sicherer Hafen für Vertriebene. Ein großer Teil der Bevölkerung stammt aus der kurdischen Region Efrîn, die 2018 von der Türkei besetzt wurde und inzwischen größtenteils vom Dschihadistenbündnis Hayat Tahrir al-Sham (HTS) kontrolliert wird.
GfbV: Angriffe und Invasionspläne Erdogans stoppen
Nach zunächst heftigem Dementi bestätigte der türkische Botschafter in Deutschland inzwischen, dass es „einen Vorfall“ in Tel Rifat gegeben habe. Am Sonntag wurde dann in Kobanê ein Fahrzeug von einer türkischen Killerdrohne bombardiert. Dabei ist ein Kämpfer der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), der in der Grenzstadt vom Erdbeben betroffene Verwandte besuchen wollte, getötet worden. Auch das Regime hat unmittelbar nach der Katastrophe betroffene Gebiete außerhalb seines Machtbereichs bombardiert. Vor diesem Hintergrund wiederholt die GfbV ihre Forderung: „Alle Angriffe, egal von welcher Seite, müssen aufhören. Auch die völkerrechtswidrigen Invasionspläne Erdogans in kurdische und andere Gebiete Syriens müssen gestoppt werden. Die türkischen Truppen, die Efrîn seit März 2018 besetzt halten, müssen die Region verlassen. Diese Truppen müssen in ihre Heimat zurückkehren, um den notleidenden Menschen in der Türkei zu helfen.“
Reisen aus Deutschland nach Efrîn ermöglichen
Hinsichtlich der Diskussionen um die Aufnahme von Erdbebenopfern in Deutschland warnt die GfbV davor, dass man damit Erdogans Plänen zur weiteren ethnischen Säuberung der Region Efrîn Vorschub leisten würde. „Besser für die Menschen wäre es, wenn deutsche Staatsangehörige aus Efrîn, wie ich, ihre Verwandten in der alten Heimat finanziell unterstützen dürften“, sagt Kamal Sido. Trotz islamistischer Besatzung und Erdbeben wollten viele Menschen in ihrer Heimat bleiben. „Sie wollen ihr Land nicht der Türkei und ihren islamistischen Söldnern überlassen. Ihnen direkt in Nordsyrien zu helfen, wäre auch für Deutschland einfacher und finanziell günstiger.“
Deshalb setzt sich die GfbV dafür ein, dass deutsche Staatsangehörige aus Efrîn über die Türkei nach Syrien reisen können, ohne verhaftet zu werden. So ließe sich auch prüfen, ob die Grenze für humanitäre Hilfe in die Region wirklich offen ist. „Bei einem solchen Besuch möchte ich persönlich auch die Gräber meiner Mutter und meines Vaters besuchen. Im türkisch besetzten Efrîn sind in den letzten Jahren viele kurdische Friedhöfe geschändet worden“, berichtete Sido.