Erdoğans Frankreich-Boykott – Gründe und Folgen

Die Muslimbruderschaft hat zum Boykott von Frankreich aufgerufen. An die Spitze des islamistischen Boykotts stellt sich der türkische Regimechef Erdoğan. Wie bewertet die französische Medienlandschaft den Boykott?

Als am 16. Oktober der Lehrer Samuel Paty von einem Islamisten wegen „Mohammed-Karikaturen“ auf grausame Weise ermordet wurde, zeigte der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdoğan nicht die geringste Anteilnahme. Statt zumindest auf den Anlass der Trauerrede Macrons einzugehen und zu kondolieren, nahm der türkische Regimechef die „Mohammed-Karikaturen“ und die im Rahmen dieser Rede gemachte Ankündigung Macrons zum Anlass einer islamistischen Hetzkampagne gegen Frankreich, die in ihrer Verallgemeinerung und Aggressivität IS-Propaganda wenig nachsteht. Er eskalierte die Aggression weiter, so dass er in der Türkei zum Frankreich-Boykott aufrief. In der französischen Presselandschaft haben diese verbalen Angriffe ein großes Echo hervorgerufen.

Libération: „Erdoğan ist kein Sultan, sondern ein Opportunist“

In der linksliberalen Zeitung Libération erklärte Jérome Berlioux zu Erdoğan: „Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist weder ein Sultan noch ein Kalif. Er ist ein Opportunist, der die Polarisierung zu seiner politischen Waffe gemacht hat. Die Auseinandersetzung mit Emmanuel Macron bildet da keine Ausnahme.“ Insbesondere die Operationen gegen die Muslimbruderschaft nach dem Mord in Frankreich hätten Ankara beunruhigt. Ankara fürchte, die neuen Regelungen würden das „Heer der Imame“ einschränken.

Le Monde: Erdoğan ist ein pyromaner Sultan

Die ebenfalls linksliberale Zeitung Le Monde gilt als eines der wichtigsten Medien in Frankreich. Sie bezeichnete Erdoğan als „pyromanen Sultan“. In dem Kommentar erinnerte das Leitmedium an die negative Rolle der Türkei in Syrien, Libyen, dem Irak, dem östlichen Mittelmeer und zuletzt im Kaukasus. In dem Artikel heißt es: „Was sucht der türkische Präsident? Er will vor allem die Zahl der Konflikte im Ausland erhöhen und damit seinen Mitbürgern als Architekt einer neuen osmanischen Macht erscheinen, während die Wirtschaft schlecht läuft und die türkische Währung zusammenbricht. Das einzige Niveau, was in der Türkei nicht steil nach unten geht, ist das der Unterdrückung.“

Weiter schreibt Le Monde: „Schließlich verrät diese neue Offensive des türkischen Staatschefs seine Frustration über die in Paris ausgearbeitete Gesetzesvorlage zum islamistischen Separatismus, welche die Türkei ihres Haupthebels gegenüber dem Islam in Frankreich, dem der türkischen Imame und der Türkischlehrer an öffentlichen Schulen, berauben soll.“

La Croix: Die Angriffe kommen aus der Türkei

Die römisch-katholisch orientierte Tageszeitung La Croix schreibt insbesondere zur Muslimbruderschaft, dass es sich bei dieser um eine „radikale Minderheit“ handele, welche durch die neuen Gesetzesvorhaben ins Visier genommen werde. Ein anonymer Experte sagt: „Eigentlich kommen die Angriffe vielmehr aus den Muslimbrüdern nahestehenden Parteien und Vereinen in der Türkei, Kuweit, Jordanien, Palästina und Katar.“ Bei jedem Angriff in Frankreich werde Paris der „Islamophobie“ beschuldigt, auf diese Weise werde versucht, die Situation zu verkehren.

Nur drei Prozent Exportvolumen in den Mittleren Osten

Der Wirtschaftswissenschaftler Olivier Babeuau bezeichnete gegenüber France Info das ökonomische Risiko durch den Boykott als sehr eingeschränkt. Frankreich stelle 67 Prozent der Exporte der EU und nur drei Prozent der Exporte gingen in den Mittleren und Nahen Osten. Wesentlich schädlicher werde der Boykott allerdings für die Türkei sein. Er sagt: „Wenn wir mal annehmen würden, dass alle Handelsbeziehungen eingefroren würden, dann verliert die Türkei ein Exportvolumen von 2,7 Milliarden Euro durchschnittlich. Das wird sie mehr als uns betreffen.“

Der Wirtschaftswissenschaftler bezeichnete Erdoğans Boykottaufruf vor allem als „politische Instrumentalisierung“, er erwarte keinen ernsthaften Boykott, der die Produktion beeinträchtigen werde.

BFMTV: Boykott von Großindustrie dürfte Türkei schwer fallen

Der wirtschaftsorientierte Fernsehsender BFMTF veröffentlichte Zahlen der Handelskammer der Türkei. Demnach ist das Exportvolumen Frankreichs im Jahr 2019 um 0,7 Prozent abgefallen. 2018 betrug der Einbruch sogar 11,9 Prozent. Die Türkei befindet sich somit auf Rang 14 der Staaten, in welche Frankreich exportiert. Der wichtigste französische Exportsektor in die Türkei im Jahr 2019 war die Luftfahrt mit einem Volumen von 490 Millionen Euro. Dieser Wert ist im Laufe des Jahres um 23, 6 Prozent eingebrochen. Für 2020 wird eine noch größere Abnahme erwartet. An zweiter Stelle kommt der Stahlexport mit einem Volumen von 455 Millionen Euro und Autos mit einem Volumen von 420 Millionen Euro an dritter Stelle. Der Boykott dieser Produkte dürfte der Türkei äußerst schwer fallen, erklärt BFMTV.

Außerdem werden verschiedene türkische Produkte durch französische Firmen vertrieben. Das betrifft beispielsweise die Wassermarken Hayat und Sirma. Ein Boykott dieser Waren würde für die Türkei einen Selbstboykott darstellen. Auch die zu „100 Prozent türkische Milch“ von Içim gehört dem französischen Konzern Lactalis.

Politikprofessor Encel: Boykottankündigungen nicht überbewerten

In der wichtigen französischen Zeitung Le Parisien äußerte sich Professor Frederic Encel zum Boykott: „Dass im Mittleren Osten französische Produkte boykottiert werden, ist ein Novum, aber man sollte das nicht überbewerten. Wir sprechen hier von fünf der 57 von einer muslimischen Mehrheit bewohnten Ländern. Weltweit leben 1,5 Milliarden Muslime und in Katar nur 300.000.“ Encel berichtet, dass Kuweit beispielsweise im Jahr 2019 nur Exporte im Wert von 600 Millionen Euro empfangen habe, während Deutschland 70 Milliarden Euro Exporte aus Frankreich bekam. Der Professor warnt, dass wenn die Länder auf diesem Boykott bestünden, die ganze EU Sanktionen und einen Boykott verhängen werde. Das wäre für die entsprechenden Staaten unmöglich.

Gegenüber der Zeitung Les Echos erklärte Encel, dass sich der Boykott der Türkei, wenn er wirklich umgesetzt werde, gegen die Türkei wenden würde. Sowohl aus politischen als auch aus wirtschaftlichen Gründen glaube er nicht, dass Erdoğans Boykottaufruf im Mittleren Osten greifen werde.