Kommentar: Erdoğan lebt von Polarisierung und Feindschaft

Erdoğans Angriffe auf den französischen Präsidenten Macron und auf eine Razzia in der Berliner Mevlana-Moschee richten sich vor allem nach innen und sollen der Stabilisierung des ins Trudeln geratenen Regimes dienen.

Was haben Erdoğan und Marie Antoinette gemeinsam? Diese Frage erscheint auf den ersten Blick als Scherzfrage. Beide stehen am Ende einer Herrschaftsform, die schon lange von innen verfault ist. Der französischen Königin Marie Antoinette wird immer wieder in den Mund gelegt, sie habe angesichts des grassierenden Hungers gesagt: „Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen!“ Mag dieser Ausspruch als auf den Punkt gebrachte fiktionale Darstellung des Ancien Régime gelten, so hat sich Erdoğan nun mit einem ganz ähnlichen Ausspruch vor laufenden Kameras in eine Reihe mit diesem Bild von Marie Antoinette gestellt. Bei einem Empfang in der kurdischen Stadt Melêtî (türk. Malatya) erwiderte er gegenüber einem seiner Anhänger, der rief „Herr Präsident, wir können kein Brot mehr nach Hause bringen“: „Das ist doch übertrieben. Dann nimm hier den Gratistee und trink den.“ Diese Situation zeigt die innerhalb des türkischen Herrschaftssystems bestehende Kluft deutlich. Der Kitt, der dieses Modell zusammenhält, ist negative Integration. Das bedeutet in diesem Fall Nationalismus, Panturkismus, Aggression nach außen und Panislamismus.

Reaktion auf Durchsuchung der Mevlana-Moschee als Mittel panislamischer Burgfriedenspolitik

Vor diesem Hintergrund sind Erdoğans neue Angriffe auf Deutschland und Frankreich zu verstehen. In Berlin wurde die von türkischen Faschisten kontrollierte Mevlana-Moschee in Kreuzberg wegen der Erschleichung von Corona-Hilfen durchsucht. Die Mevlana-Moschee ist eine direkte Gründung des Graue-Wölfe-Ablegers Milli Görüş und spielte eine unrühmliche Rolle bei der Ermordung des linken Lehrers Celalettin Kesin am 5. Januar 1980. Der Mord wurde von einem faschistischen Mob aus der Mevlana-Moschee verübt. Die Veruntreuung von Corona-Hilfen scheint eine verbreitete Praxis insbesondere in dschihadistischen Kreisen zu sein. So hat es bereits mehrere Razzien im Umfeld des Breitscheidplatz-Attentäters Anis Amri wegen solcher Fälle von Subventionsbetrug gegeben. Unter den Beschuldigten sind immer wieder auch salafistische „Imame“. Die Behörden sprechen von mehr als 100.000 Euro, die Dschihadisten unrechtmäßig kassiert haben sollen. Die Polizei hat bereits bei mehr als 20 Dschihadisten-Wohnungen und weitere Räumlichkeiten durchsucht.

Statt angesichts der offensichtlichen Korruption der vom Erdoğan-Regime kontrollierten Mevlana-Moschee zu schweigen, geht Erdoğan allerdings in die Vorwärtsverteidigung. Er ließ seinen Sprecher Ibrahim Kalın erklären, die Durchsuchung der Moschee sei eine „hässliche Aktion“, welche die Heiligkeit des Gotteshauses und zudem das Prinzip der Religionsfreiheit im deutschen Grundgesetz verletze - ein Grundsatz, den Erdoğan mit seinen Angriffen auf alevitische Cem-Häuser selbst mit Füßen tritt. Der türkische Vizepräsident Fuat Oktay forderte gar eine Entschuldigung der Berliner Staatsanwaltschaft und Polizei bei der muslimischen Gemeinde. Auch der für seine homophoben Hassbotschaften berüchtigte Präsident des türkischen Religionsamtes, Ali Erbaş, warf den deutschen Behörden eine „hasserfüllte Haltung“ gegenüber Muslimen vor. In dschihadistische Manier geißelt das AKP/MHP-Regime die Razzia als „Angriff auf den Islam“.

Ein weiteres Ereignis zeigt das gleiche politische Muster auf. Nach dem islamistischen Anschlag auf den französischen Lehrer Samuel Paty hatte Macron ein verschärftes Vorgehen seiner Regierung gegen Islamisten angekündigt. „Was kann man über ein Staatsoberhaupt sagen, das Millionen Mitglieder verschiedener Glaubensrichtungen so behandelt“, sagte Erdoğan bei seiner Rede auf dem Parteitag seiner AKP in Kayseri. An Macron gewandt fügte er hinzu: „Lass erst einmal deinen geistigen Zustand überprüfen!“ Erdoğan setzte damit radikale Islamisten mit „Millionen von Mitgliedern verschiedener Glaubensrichtungen“ gleich und legitimiert damit ganz offen den Dschihadismus, dessen größter Förderer sein Regime ist. Nicht umsonst protestierten in den besetzten Gebieten in Nordsyrien protürkische Milizen unter Fahnen des „Islamischen Staat” (IS) und der al-Qaida für Erdoğan und gegen Macron und riefen antisemitische Parolen.

Es geht um die Innenpolitik

Während Erdoğan keine Antwort auf die soziale Frage in der Türkei und in Nordkurdistan hat, bedient sich das Regime einer imaginierten Bedrohung des Islam von außen und versucht auf diese Weise Einigkeit herzustellen. Die Argumentation des angeblich unterdrückten und verfolgten Islam, der sich wehren müsse, entspricht der Propaganda des IS und schafft die Grundlage für neue grausame Morde und Massaker. Dass er mit seiner Propaganda und seiner Gleichsetzung die Arbeit gegen antimuslimischen Rassismus unterminiert, ist ihm vollkommen klar. Denn ein Abbau des Hasses ist nicht in seinem Sinne. Erdoğan braucht Polarisierung und Feindschaft.