Erdoğan tritt drittes Jahrzehnt seiner Herrschaft an

Nach 20 Jahren an der Macht wird Erdoğan für weitere fünf Jahre im Amt gewählt. Er spricht von einem „Jahrhundert der Türkei“ – und schlägt nach seinem Wahlsieg aggressive Töne an.

„Die zentralen Gewinner der Wahlen lassen sich wohl als der türkische Nationalismus und der politische Islam benennen. Alle gesellschaftlichen Gruppen des Landes, die nicht in das türkisch-nationale und islamistische Weltbild des neuen Regierungsblocks passen, erwarten schwere Zeiten“, kommentierte das in Berlin sitzende Kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit am Sonntagabend den Ausgang der Stichwahl um das höchste Amt in der Türkei. Der alte und neue türkische Präsident heißt Recep Tayyip Erdoğan. Er tritt das dritte Jahrzehnt seiner Herrschaft an.

„Bis ans Grab“ bei seinen Anhängern

Noch bevor alle Stimmen ausgezählt worden waren, hatte sich der AKP-Chef bereits zum Wahlsieger erklärt. Er danke allen, die es ihm ermöglicht hätten, die nächsten fünf Jahre in der Türkei zu regieren, sagte er am frühen Abend vor einer jubelnden Menge in Istanbul. Er werde „bis ans Grab“ bei seinen Anhängern sein. „Heute hat niemand verloren, alle 85 Millionen Einwohner der Türkei haben gewonnen“, sagte Erdoğan. Die Demokratie habe gesiegt.

Attacken gegen die Queer-Community

Und wie schon im Wahlkampf setzte Erdoğan wieder zu Attacken gegen die Queer-Community an. „Meine Brüder, ist diese CHP denn nicht für die LGBT? Ist auch diese HDP nicht auch für die LGBT? Und ebenso die Iyi-Partei und all ihre kleinen Helfer?“, fragte er im Hinblick auf die verhasste Opposition. In seinem eigenen Wahlbündnis gebe es so etwas nicht, meinte Erdoğan. Ohnehin würde er diese „zerquetschen“, sagte er. Er erhielt dafür laute Zustimmung aus dem Publikum. Zugleich machte er sich über Kılıçdaroğlu lustig. „Bye bye, Bay Kemal“, spottete Erdoğan mit der veralteten Anrede „Bay Kemal“ (Herr Kemal)., während seine Anhänger buhten. „Der einzige Sieger heute ist die Türkei.“

Die ausländischen Medien, die Erdoğan stürzen wollen

Auf dem Balkon des Präsidentenpalasts in Ankara warf Erdoğan in Begleitung seiner Frau Emine ausländischen Medien eine Stimmungsmache vor. Deutsche, französische und englische Zeitungen hätten versucht, ihn zu „stürzen“, es am Ende aber nicht geschafft, sagte der Regimechef vor jubelnden Anhängern. „Die schmutzigen Spielchen habt ihr gesehen!“ Und: „Wir werden weiter das zweite Jahrhundert dieses Landes aufbauen.“ Der Opposition warf Erdoğan ein weiteres Mal Verbindungen zum Terrorismus vor, gegen den er nun verschärft vorgehen wolle. Der Krieg in Kurdistan dürfte mit der Ansage weiter eskalieren.

Drohungen gegen Demirtaş

Auch teilte er gegen den kurdischen Politiker und ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş aus, der sich trotz eines gegenteiligen Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) seit 2016 im Gefängnis befindet. „Unter unserer Regierung wird Selo [so wird der 50-Jährige eigentlich von seinen Anhänger:innen genannt] das Gefängnis nicht verlassen. Das kommt gar nicht in Frage. Das wird dir nicht gelingen“, sagte Erdoğan an die Adresse seines Herausforderers Kemal Kılıçdaroğlu. Der Oppositionskandidat hatte Demirtaş und anderen politischen Gefangenen, darunter Kulturförderer Osman Kavala, ihre Freilassung zugesichert. Die AKP-Anhänger skandierten während Erdoğans Rede „Selo‘ya idam!“ – und forderten damit die Todesstrafe für Demirtaş.

Lira unter Druck

Erdoğan versprach weiter, die starke Inflation im Land zu senken. Fachleute machen dafür allerdings seine unorthodoxe Wirtschaftspolitik verantwortlich. Die ökonomische Krise und die hohe Inflation in der Türkei drängt seit über zwei Jahren die Bevölkerung in die Armut. Die türkische Lira, die gegenüber dem Euro und Dollar seit 2021 die Hälfte ihres Werts verloren hat, geriet noch am Wahlabend unter Druck. Mit einem Kurs von zeitweise 20,05 Lira je Dollar wurde sie nahe einem am Freitag erreichten Rekordtief von 20,06 Lira je Dollar gehandelt.

Erste Stichwahl in der Geschichte der Türkei

Laut vorläufigen Ergebnissen erhielt Erdoğan gut 52 Prozent der Stimmen, sein Gegenkandidat Kılıçdaroğlu knapp 48 Prozent. Die Opposition war mit dem „Sechsertisch“ – eine Allianz aus sechs Parteien unterschiedlicher politischer Lager, angetreten und wurde bei der Präsidentschaftswahl von der HDP und der Grünen Linkspartei (YSP) unterstützt. Es war die erste Stichwahl in der Geschichte der Türkei. In der ersten Wahlrunde hatte der Amtsinhaber weniger als fünf Prozentpunkte vor seinem Herausforderer gelegen und die erforderliche absolute Mehrheit nur knapp verfehlt. Erdoğan führt die Türkei seit 20 Jahren – zuerst als Ministerpräsident und seit 2014 als Staatsoberhaupt.