In der Türkei soll trotz der Erdbebenkatastrophe mit mehr als 45.000 bestätigten Toten im Mai gewählt werden. Dies gab Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan am Mittwoch in Ankara bekannt. „Dieses Volk wird, so Gott will und die Zeit naht, am 14. Mai das Nötige tun“, sagte Erdogan bei der Fraktionssitzung seiner Partei AKP im türkischen Parlament. Zwischenzeitlich hatte es Spekulationen über eine Verschiebung der Präsidenten- und Parlamentswahl gegeben.
Die Oppositionsparteien hatten sich zuvor schon für den Termin ausgesprochen. Nun war es das erste Mal, dass sich das amtierende Staatsoberhaupt dazu äußerte. Erdogan will dann erneut für das Präsidentenamt kandidieren. Die Opposition und juristische Berufsverbände argumentieren jedoch, dass der AKP-Chef, der 2014 zum ersten Mal und 2018 zum zweiten Mal zum Präsidenten gewählt wurde, der Verfassung zufolge nur dann ein drittes Mal kandidieren darf, wenn das Parlament Neuwahlen erzwingt.
Über die Details zum Ablauf der gleichzeitig stattfindenden Präsidenten- und Parlamentswahlen wurden keine Angaben gemacht. Erdogan hatte im Januar angekündigt, per Dekret vorgezogene Wahlen am 14. Mai zu veranlassen – regulär wäre im Juni gewählt worden. Dies kann laut Verfassung entweder mit Zustimmung von 60 Prozent der Abgeordneten im Parlament oder per Dekret durch den Präsidenten geschehen. Nach Ansicht der Regierung steht der Kandidatur Erdogans jedoch nichts im Weg.
In seiner Rede im Parlament beschuldigte Erdogan zudem erneut die Opposition, mit ihrer Ablehnung der „urbanen Transformation“ das verheerende Ausmaß der Erdbeben heraufbeschworen zu haben. Als urbane Transformation bezeichnet die AKP-Regierung den profitorientierten Umbau der Metropolen des Landes – und nimmt Naturkatastrophen wie Erdbeben als Vorwand zur Gentrifizierung. Unter dem Etikett der Maßnahme zum Schutz der Bevölkerung werden Gebiete, die man gerne umbauen möchte, zu „Erdbebenrisikozonen“ erklärt. Die Gentrifizierung ist eines der Kernstücke des brutalen kapitalistischen Aufholprozesses, den die AKP der Türkei bei ihrer Machtübernahme verordnet hat.
Bei den „Arealen der urbanen Transformation“ in der Türkei handelt es sich in der Regel um kulturelle Zentren wie Istanbul-Beyoğlu oder Sûr, die Altstadt von Amed (tr. Diyarbakir), aber auch sogenannte Gecekondu-Viertel wie Küçük Armutlu, das Anfang der 1980er Jahre mehrheitlich von alevitischen Revolutionär:innen und Arbeiter:innen gegründet wurde. Die Gemeinsamkeit der zu gentrifizierenden Gebiete besteht in der Regel darin, dass sie in direkter Nähe zu Geschäftszentren liegen und dadurch als teures Spekulationsland im Zentrum des Interesses der profitgierigen Bau-Lobby aus Erdogans „Fünferbande“ sind. Viele Oppositionsparteien setzen sich gegen den staatlich angeordneten Strukturwandel in den Städten ein, da die „Aufwertung“ eine Verdrängung der bisherigen Einwohnerschaft zur Folge hat. Finanziell stärkere Gruppen verdrängen die alteingesessene Bevölkerung, die weniger Geld hat, aus den Wohnungen. Mit den neuen Immobilienpreisen steigen auch die Mieten immer weiter an.
Erdogan wiederholte heute im Parlament auch seine Behauptung, bei 98 Prozent der durch die Erdbeben vor drei Wochen eingestürzten oder stark beschädigten Gebäude, deren Zahl sich nach jetzigem Stand bei 203.958 beliefe, handele es sich um Bauten, die vor 1999 gebaut seien – also vor der Machtübernahme der AKP. Die türkische Architektenkammer TMMOB hatte diesen Angaben der Regierung bereits mehrfach widersprochen. Mindestens die Hälfte aller zerstörten Gebäude in den betroffenen Regionen sei erst nach 2001 gebaut worden – als bereits scharfe Bauvorschriften zur Erdbebensicherheit in Kraft waren.