Drei Mediziner:innen aus Hamburg besuchten im Sommer 2021 die selbstverwaltete Poliklinik im Geflüchtetencamp Mexmûr im Nordirak/Südkurdistan. Die drei sind Teil einer Gruppe von Ärzt:innen, die in einen solidarischen Austausch und einen Prozess der Unterstützung der gesundheitlichen Einrichtungen in Kurdistan treten wollten. Neben gynäkologischen Seminaren hielt die Delegation auch Seminare zur Reanimation und Wiederbelebung in Notfällen ab. Am gestrigen Donnerstag berichtete sie an der Universität Hamburg über ihre Erfahrungen aus dem Flüchtlingslager.
Mexmûr: Vom Lager zur Kleinstadt
Christian Haasen, Psychiater, berichtete zunächst über Mexmûr. Er zeigte die geographische und politische Lage auf und schilderte die besonderen Probleme, die sich daraus ergeben. Mexmûr sei entstanden, als im Zuge des Krieges der Türkei gegen die kurdische Bevölkerung in den 1980er und 1990er Jahre Dorfzerstörungen durch die türkische Armee begangen wurden. „Allein 1993 wurden 3.428 kurdische Dörfer in der Türkei zerstört, wodurch über eine Millionen Kurd:innen von der Armee vertrieben wurden. Ca. 17.000 von ihnen flohen in den Nordirak. Dort gründeten sie 1998 das Flüchtlingscamp Mexmûr als Zeltlager mitten in der Wüste“, berichtete er. Mittlerweile habe sich Mexmûr zu einer Gemeinde mit Häusern, Strom und Infrastruktur entwickelt. Es gebe sieben Schulen, Werkstätten und Geschäfte sowie eine Gesundheitsstation.
2014 wurde Mexmûr vom IS am 7. August eingenommen und am 10. August von PKK-Kämpfer:innen und Peschmerga und befreit. Haasen berichtete weiter über das 2017 durch die PDK initiierte Unabhängigkeitsreferendum der KRG (Kurdistan-Region Irak), bei dem 87 Prozent der Bevölkerung für die Unabhängigkeit stimmten. Als Folge jedoch besetzte die irakische Armee 40 Prozent des Territoriums der KRG, unter anderem die Erdölstadt Kerkûk. Auch das Lager Mexmûr wurde in das Territorium des irakischen Hoheitsgebiets einverleibt. Seit 2019 werde es den Bewohner:innen von Mexmûr untersagt, in das PDK-Gebiet der KRG einzureisen und somit auch in die nächste große Stadt Hewlêr (Erbil) zu fahren, was u.a. bei medizinischen Notfällen dramatische Auswirkungen habe.
Poliklinik im Camp Mexmûr: Anlaufpunkt für Menschen aus der gesamten Region
Auf der Veranstaltung wurden Bilder aus der Poliklinik gezeigt. Die selbstverwaltete medizinische Versorgung werde durch eine Gesundheitskommission geleitet, die aus circa 50 Mitgliedern besteht, die ein Leitungsgremium wählt. Insbesondere seit 2019 sei die autonome Gesundheitsversorgung für die Bevölkerung im Camp existenziell geworden. Es gebe einen UNHCR-Gesundheitsposten, der nur drei Stunden am Tag im Camp arbeitet. Außerhalb dieser Zeit oder bei schwereren gesundheitlichen Problemen muss die die Bevölkerung drei Stunden nach Mosul oder Silêmanî fahren, um dort medizinische Versorgung in Anspruch zu nehmen, da das nahegelegene Hewlêr wegen der Repression durch die PDK nicht mehr angefahren werden kann.
Seither ist die Bedeutung für die Poliklinik nicht nur für das Camp, sondern auch für die Kleinstadt Mexmûr von zunehmender Bedeutung. Während des Besuchs der Delegation sei sogar ein Soldat der irakischen Armee mit seiner Familie in die Poliklinik zur Behandlung gekommen, da diese einen sehr guten Ruf habe. In der Klinik arbeiten drei ausgebildete Krankenpflegerinnen, eine Hebamme, vier Laien-Krankenpfleger, zwei Labormitarbeiter, zwei Apothekenmitarbeiter und ein Allgemeinmediziner. Teil der Klinik sind eine Apotheke, ein Labor und ein Ultraschallgerät.
In der gesamten Poliklinik gebe es eine sozial gerechte Preisgestaltung. Das führe zu einer hohen Akzeptanz in der Bevölkerung und wirke sich sogar auf medizinische Angebote außerhalb des Camps aus, wo Ärzt:innen gezwungen sind ihre Preis angemessener zu gestalten, da die Menschen sonst in die Poliklinik gehen. Jede/r Patient:in muss etwas zahlen, dadurch könnten die Kosten und auch Gehälter der Klinik abgedeckt werden. Neben dem Gesundheitszentrum gibt es auch ein Zentrum für Physiotherapie.
Rettungswagen kann nicht eingesetzt werden
Der Anästhesist Ernst Krefft berichtete auch darüber, dass ein aus Italien gespendeter Rettungswagen, der voll ausgestattet ist, keine Zulassung durch die irakischen Behörden bekommen habe, weshalb er das Camp nicht verlassen könne. Daher können Patient:innen in Notfällen wie Schlaganfall oder Herzproblemen nicht mit dem Rettungswagen ins nächste Krankenhaus verlegt werden, sondern müssen im Privatwagen die drei Stunden bis Mossul oder Silêmanî gefahren werden. Im Zuge des Angriffskriegs der Türkei auf die Medya-Verteidigungsgebiete in Südkurdistan kam es auch immer wieder zu Angriffen auf das Flüchtlingslager Mexmûr.
Geplante Projekte der Gesundheitsversorgung in Mexmûr
Auf die Frage aus dem Publikum, welche weiteren Ziele es für Unterstützung der Gesundheitsversorgung in Mexmûr gebe, erklärte Haasen, man wünsche sich einen Operationssaal, dazu fehle es aber vor allem auch an ausgebildeten Fachkräften, die diesen betreiben könnten. Zahnmedizin wäre geplant. Es sei sinnvoll, den Physiotherapiebereich auszuweiten und den Röntgenbereich zu digitalisieren, um sich besser auch mit Ärzt:innen außerhalb beraten zu können. Es fehle vor allem an Fachpersonal und Ärzt:innen. Der einzige Arzt im Camp sei ein junger Mann, der selbst in Mexmûr groß geworden sei, in Dihok studiert habe und nun im 24-Stunden-Einsatz sei.
Im Anschluss an den Bericht der Mediziner:innen sprach der ehemalige Bundestagsabgeordnete der Linken und Vorsitzende der Kurdistan Hilfe e.V., Jan van Aken, kurz über die aktuelle Situation in Rojava und Başûr (West- und Südkurdistan) und kritisierte vor allem das Schweigen der Medien zu dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Türkei. Er forderte die Anwesenden auf, den Krieg überall zu thematisieren und wies auf eine Veranstaltung in Hamburg am Mittwoch, dem 4. Mai, hin, die im Rahmen des Tatort Kurdistan Cafés im Centro Sociale um 19 Uhr stattfindet.