Dilan Kunt Ayan: Frieden ist noch nie durch Abwarten entstanden

Die DEM-Abgeordnete Dilan Kunt Ayan beleuchtet die nötigen gesellschaftlichen Schritte für eine Demokratisierung der Türkei. In den Fokus stellt sie die Organisierung: Jede einzelne Person muss den Friedensaufruf erklären und diskutieren.

„Jedes Haus besuchen“

Nach dem historischen Friedensaufruf von Abdullah Öcalan im Februar trafen die Mitglieder der Imrali-Delegation der DEM-Partei, Pervin Buldan und Sırrı Süreyya Önder, vorletzte Woche mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan zusammen.

Dilan Kunt Ayan, Abgeordnete für Riha (tr. Urfa) von der DEM-Partei, teilte mit ANF im Interview ihre Ansichten über das Treffen. Sie sagte: „Dies ist sicherlich ein wichtiger Schritt, um den Prozess erfolgreich voranzutreiben. Leider gab es bisher keine klare Position in der Öffentlichkeit. Es ist eine wichtige Entwicklung, dass der Präsident sich direkt mit unserer Delegation getroffen hat. In der Tat können wir dies als einen verspäteten Schritt bezeichnen.“ Insbesondere stellt sie für den Erfolg eines möglichen Friedensprozesses aber die Rolle der Gesellschaft in den Vordergrund: „Wir müssen diejenigen sein, die organisieren, nicht diejenigen, die warten.“

Vertrauen braucht konkrete Schritte

Die Abgeordnete sieht neben wachsendem Optimismus auch die noch immer bestehenden Bedenken der Bevölkerung. Die direkte Beteiligung des Präsidenten habe Hoffnungen und Erwartungen bezüglich schneller und konkreter Schritte geweckt. Ayan sieht die Möglichkeit, dass das Erfolgen dieser Schritte den existierenden Optimismus in Unterstützung und Vertrauen verwandeln kann.

Um die Bedenken der Öffentlichkeit zu zerstreuen, braucht es nach der Politikerin intensive Bemühungen. Die jahrhundertelange Verleugnungspolitik des Staates, der Bruch von Waffenruhen durch die Türkei in der Vergangenheit und die mehrfache Erfahrung, dass auf eine Verhandlungsphase eine Verschärfung des Krieges und der Aggression folgte, hätten in der kurdischen Bevölkerung zu berechtigten Zweifeln geführt. Als Folge sei eine vorsichtige Haltung entstanden. Die Politikerin betonte: „Diese Bedenken wurden uns überall, wo wir hinkamen, immer wieder mitgeteilt.“

„Frieden ist noch nie durch Abwarten entstanden“

Ayan ist überzeugt, dass das Einschlagen eines demokratischen Lösungsweges insbesondere von der Gesellschaft ausgehen muss: „Doch nun ist es an der Zeit, diese Sorgen durch Kampf in Erfolg umzuwandeln. An diesem Punkt müssen die Menschen an ihre eigene Stärke glauben, insbesondere an die Stärke von Herrn Öcalan, und diesen Prozess mit ihrer eigenen Willenskraft vorantreiben. Frieden ist noch nie durch Abwarten entstanden. Er hat immer einen großen Kampf erfordert. Das gilt auch für diejenigen, die auf der Seite des Volkes und der Opposition stehen.“

Öcalan muss angemessene Bedingungen für politisches Engagement erhalten

Dies bedeute aber nicht die Verantwortung für den Prozess nur auf einer Seite zu sehen, beide Seiten müssten ihn tragen. Die wichtigste Froderung der DEM-Partei sei, „dass Herrn Öcalan die notwendigen Voraussetzungen für eine freie und aktive Teilnahme gegeben werden. Die Öffentlichkeit sieht diesen Schritt auch als einen Test der Aufrichtigkeit. Millionen Menschen fordern dies. Damit dieser Prozess in gesunder und sinnvoller Weise fortgesetzt werden kann, muss dieser Schritt ohne Verzögerung unternommen werden.

Als einer der ersten Schritte wird erwartet, dass die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass der Kongress der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zusammentreten und seine internen Beratungen abhalten kann.“

Andauernder Krieg normalisiert Ungerechtigkeit

Dilan Kunt Ayan verwies auf weitere entscheidende Faktoren, wie die Normalisierung von Ungerechtigkeiten durch den andauernden Krieg. Gemeint sind hiermit willkürliche Festnahmen, Verhaftungen und die Verweigerung der Freilassung kranker Gefangener. Die unverzügliche Vorlage von Rechtsreformen im türkischen Parlament sei hierfür ein notwendiger Schritt. „Die Gesellschaft muss sehen, dass ein echter Paradigmenwechsel im Gange ist“, führte die Politikerin aus, „die Wiedereinstellung entlassener öffentlicher Bediensteter, die Beseitigung von Hindernissen für die Vereinigungsfreiheit, die Abschaffung des Systems der von der Regierung ernannten Treuhänder und die Verabschiedung umfassender, freiheitlicher und egalitärer Rechtsreformen müssen unverzüglich zur Priorität erklärt werden.“

Eine historische Verantwortung

Für einen dauerhaften Frieden, so betont Ayan, müssen alle Teile der Gesellschaft Verantwortung übernehmen. Vor sowie nach dem Friedensaufruf Abdullah Öcalans seien in öffentlichen Versammlungen die Inhalte und die Tragweite des Aufrufs ebenso erläutert worden wie damit verbundene Sorgen und konkrete Schritte. Dieser Vermittlungsprozess halte weiterhin an und werde von der DEM-Partei mit großer Kraft vorangetrieben, um alle gesellschaftlichen Gruppen zu erreichen und entsprechende Spezifika zu diskutieren.

Der Aufbau einer demokratischen Türkei

Ayan sagt, die Vorstellung einiger, dass „die Politiker:innen den Prozess ohnehin in die Hand nehmen“ und sie demzufolge nichts zu tun brauchten, sei völlig falsch. Das ziel sei der Aufbau einer demokratischen Türkei, weshalb die Aufgabe bei „der Gesellschaft, der Opposition und allen Einzelnen, die in diesem Land leben“ läge.

Im Mittelpunkt all dieser Diskussionen stehe die Botschaft, dass jede:r die Verantwortung für diesen Prozess übernehmen und ihn aus eigener Kraft mitgestalten muss. Die Abgeordnete beschreibt klare Schritte: „Niemand sollte sagen: ‚Was kann ich tun?‘ Jede:r sollte die Bedeutung dieses Aufrufs erklären, zu Hause, auf der Straße, am Arbeitsplatz. Wir müssen versuchen, diejenigen zu überzeugen, die noch zögern. Jede:r von uns kann etwas zu einer freien und gleichberechtigten Zukunft der Völker der Türkei beitragen.“ Auch als Partei werde dieser Weg fortgesetzt: „Wir müssen unseren Organisationsbereich so ausweiten, dass kein Haus unbesucht und kein Mensch unerreicht bleibt. Wir müssen Mechanismen schaffen, die eine soziale Organisation und kollektives Handeln ermöglichen.“

Aufruf zu Frieden und Demokratisierung

Nach mehreren Jahren der Totalisolation fanden seit Dezember letzten Jahres Besuche einer Delegation der DEM-Partei auf der Gefängnisinsel Imrali statt. Bei dem dritten Besuch der Imrali-Delegation bei Abdullah Öcalan waren neben Pervin Buldan und Sırrı Süreyya Önder auch die Parteispitze der DEM – die Ko-Vorsitzenden Tülay Hatimoğulları und Tuncer Bakırhan – sowie die Rechtsanwälte Cengiz Çiçek und Faik Özgür Erol und der erfahrene Politiker Ahmet Türk vertreten.

An dem Gespräch nahmen auch die drei ebenfalls im Imrali-Gefängnis inhaftierten Mitgefangenen Öcalans, Ömer Hayri Konar, Hamili Yıldırım und Veysi Aktaş teil. Gemeinsam veröffentlichten sie den „Aufruf für Frieden und eine demokratische Gesellschaft“, der auf eine neue politische Öffnung in der Türkei abzielt.

Gespräche auch mit Regierungsebene

Im Rahmen dieses Dialogprozesses hatte die DEM-Partei auch den direkten Austausch mit der Regierung gesucht. Vorletzte Woche trafen Pervin Buldan und Sırrı Süreyya Önder mit Präsident Recep Tayyip Erdoğan zusammen – ein seltenes, symbolträchtiges Treffen angesichts der langjährigen Spannungen zwischen Regierung und kurdischer Bewegung.