Figen Yüksekdağ berichtete über ihre Anwält*innen dem in Italien erscheinenden Wochenmagazin Vanity Fair über die Veränderungen in der Gesellschaft der Türkei und welche Auswirkung die demokratisch-kulturellen Verwerfungen auf Frauen dort haben.
„Nicht nur das Land verändert sich, die Gesellschaft ist in vollständigem Wandel begriffen“, sagt Yüksekdağ und warnt: „In der Türkei gab es immer schon nationalistische und radikalreligiöse Ansichten, aber jetzt haben sie eine gefährliche Allianz geschlossen und eine neue Legitimität unter der Bevölkerung erhalten. Wenn niemand versucht sie aufzuhalten, dann wird es diesmal sehr ernst werden.“
„Wir werden Zeug*innen einer kontinuierlichen Verschlechterung der Situation der Frauen in der Türkei“, betont sie, „aktuell werden bereits die grundsätzlichsten Rechte verletzt. Der Putsch von 2016 und die Ausrufung des Ausnahmezustands haben die Aktivitäten von Hunderten Vereinen, die sich um die Hilfe für Opfer psychischer und physischer Gewalt bemühen, negativ beeinflusst. Insbesondere die kurdischen Frauen zahlten einen hohen Preis. Im Moment sitzen neun unserer Abgeordneten, 35 unserer Bürgermeister*innen und Tausende unserer Parteimitglieder im Gefängnis. Das schulpflichtige Alter wurde abgesenkt und die Zahl der 13–14-jährigen Mädchen, welche die Schule verlassen, steigt kontinuierlich. Andererseits nimmt die Anzahl der Frauen, die am ökonomischen Leben teilnehmen, stetig ab.“
Am 24. Juni steht der Türkei eine Schicksalswahl bevor. Der Demokratischen Partei der Völker (HDP) wurde in den konservativen Wahlallianzen kein Platz eingeräumt. Nach Meinung von Yüksekdağ hat sich die Türkei zu keiner Zeit vollständig demokratisiert und die wenigen Rechte, die bewahrt wurden, sind nun in großer Gefahr: „Bald sind 100 Jahre seit dem Übergang vom Osmanischen Reich zum modernen republikanischen System vergangen, aber in der Türkei hat es außer einem formal parlamentarischen Modell und kurzlebigen, partiellen Versuchen keine Umsetzung einer demokratischen Regierung und eines demokratischen Lebens gegeben. Die türkische Gesellschaft befindet sich unter einer sehr ernsten, nationalistischen, radikalreligiösen, rückständigen Belagerung und dieser Druck hat die Dynamiken zur gesellschaftlichen Erneuerung gelähmt. Der Grund, warum Erdoğan so massiv attackiert, ist klar, die Wahlergebnisse sind in Gefahr. Die Wahlen bringen das Risiko mit sich, das Land radikal zu verändern. Die Wahlkampagne findet unter Zensur statt. Die HDP kann die Medien nicht erreichen, denn die Medien stehen unter der Kontrolle Ankaras.
Mit der Einschüchterungspolitik wird für ein künstliches Gleichgewicht gesorgt. Es ist offensichtlich, dass die durch einen kleinen und illegitimen Unterschied geschaffene AKP-Mehrheit in ein Gleichgewicht des Schreckens transformiert wurde. Wenn sie diese Wahlen gewinnen, dann werden sie ihr System der Repression und Diktatur im Namen der Mehrheit stärken und die letzten Seile, die Erdoğan oder die Regierung noch halten, werden durchtrennt werden. Weder aus den Diskussionen noch aus der Politik der letzten Zeit haben wir das kleinste positive Signal erhalten. Erdoğan versucht sich als rechtschaffen und legitim darzustellen. Wir aber sprechen von einem Kampf auf der Basis der eigenen Kraft des Volkes, um die HDP mit ihrem radikaldemokratischen Programm zu einem Erfolg zu bringen, um die Türkei vor den putschistischen, faschistischen, monistischen und diktatorischen Tendenzen retten zu können. Wir bekennen uns zu unserer großen historischen Verantwortung und nehmen diesen Kampf alleine auf.“
Was werden Sie als erstes tun, wenn Sie aus dem Gefängnis kommen?
„Ich würde jetzt gerne sagen, ‚an einen Ort mit grenzenlosem Himmel, der reich an Natur ist, in den Urlaub fahren‘, aber unsere Bedingungen geben uns dafür keine Zeit. Oder es bleibt uns als ein Traum, der sich, je schneller wir rennen, desto weiter entfernt. Wenn das unwahrscheinliche wahr wird und ich hier rauskomme, dann wird sich viel Arbeit angehäuft haben und ich glaube, es gibt viele, die mich dringend erwarten, damit ich diese Aufgaben löse. Deswegen werde ich sofort wieder anfangen müssen zu arbeiten. Es soll sich jetzt nicht so anhören, als würde ich mich beklagen, eigentlich wäre das für mich eine gute und glückliche Wiedervereinigung. Nach der Isolation im Gefängnis werde ich mich als erstes in eine Menschenmenge mischen.“