DIAYDER-Prozess zieht weitere Kreise

Der Terrorprozess gegen den kurdischen Geistlichenverein DIAYDER zieht weitere Kreise. Die Istanbuler Staatsanwaltschaft hat nun auch zwei führende Angestellte der Stadtverwaltung im Visier.

Im Terrorverfahren gegen den kurdischen Geistlichenverein DIAYDER dehnt die Staatsanwaltschaft Istanbul die Ermittlungen auf führende Angestellte der Stadtverwaltung aus. Wie der vorsitzende Richter des Kollegialgerichts, Akın Gürlek, am Freitag in der zweiten Hauptverhandlung im Istanbuler Justizpalast erkennen ließ, stehen nun auch zwei bisherige Zeugenpersonen im Visier der Strafverfolgungsbehörden. Betroffen sind Yavuz Saltık, der bis vor Kurzem noch Direktor des Amts für Soziale Dienste war, sowie die Verantwortliche der Stelle für religiöse Angelegenheiten, Nilüfer Taşkın. Der Vorwurf lautet: Betrug wegen zu Unrecht in Anspruch genommener Lebensmittelhilfe zugunsten der Angeklagten, die der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation beschuldigt werden.

In dem vor der 14. Schwurgerichtskammer Istanbul verhandelten Verfahren sind insgesamt 23 Geistliche angeklagt, denen „PKK-Mitgliedschaft“ und Unterstützung für die kurdische Arbeiterpartei vorgeworfen wird. Lauf der kafkaesken Anklageschrift sollen die teils hochbetagten Männer, darunter Imame und Totenwäscher, durch die Gründung des „Vereins für gegenseitige Hilfe und Solidarität der Geistlichen“ angestrebt haben, „im Sinne von Abdullah Öcalan“ eine Art „Parallel-Diyanet“ ins Leben zu rufen.

Protokolle von abgehörten Telefonaten über Lebensmittelhilfe als Beweismittel

Bei der heutigen Verhandlung musste sich zunächst Nilüfer Taşkın den Fragen des Gerichts stellen. Im Fokus der Befragung lagen Telefonate zwischen der Religionsbeauftragten und dem DIAYDER-Vorsitzenden Ekrem Baran, die von der Polizei aufgezeichnet worden waren. Taşkın äußerte, dass es bei den Gesprächen hauptsächlich um Fragen zur Ausgabe von Lebensmittelmarken und anderen Bedarfsgütern ging, die von der Istanbuler Stadtverwaltung eben nicht nur an bedürftige Personen, sondern auch Vereine der Glaubensgemeinschaften ausgegeben würden. Es gebe tausende Einrichtungen wie Moscheen und Vereinigungen religiöser Gruppen, die Unterstützung solcher Hilfsprogramme in Anspruch nehmen würden. In dieser Angelegenheit sei sie erste Ansprechpartnerin hunderter Personen gewesen, die dann in das Amt für Soziale Dienste weitergeleitet würden.

Yavuz Saltık wurde zu den Kriterien befragt, die von der Istanbuler Stadtverwaltung für die Festlegung der Bedürftigkeit herangezogen werden. Auf die Frage, auf welche Weise die Hilfe geleistet werde, zog Saltık ein paar Hilfsmarken der Stadtverwaltung aus seiner Tasche und erklärte, dass der Betrag nach Bedarf ermittelt und als Aufladung auf einer Karte erfolge, mit dieser die Eigentümer dann in ausgewählten Supermärkten einkaufen könnten.

Zwei Haftbefehle aufgehoben

Nach den Befragungen ordnete das Gericht die Einbeziehungen von Saltık und Taşkın in die Ermittlungen ein. Im Fall von zwei der insgesamt sechs in Untersuchungshaft sitzenden Angeklagten wurde der Haftbefehl aufgrund ihr schlechten gesundheitlichen Verfassung aufgehoben, allerdings wurden polizeiliche Meldeauflagen angeordnet. Weiterhin im Gefängnis in der Strafvollzugsanstalt Silivri sitzen Ali Fuat Hatip, Ekrem Baran, Hafit Tunç und Mehmet Emin Aslan. Das Verfahren wurde auf den 13. Mai vertagt. Bei der Verhandlung sollen mit „X”, „Kartal” und „Padişah Farklı“ drei „geheime Zeugen“ der Anklage angehört werden.

Hintergrund des DIAYDER-Verfahrens

Der im Februar eingeleitete Prozess gegen kurdische Geistliche, die im Verein DIAYDER organisiert sind, gleicht eher einem orwellschen Gebilde als einem Gerichtsverfahren. Ähnlich wie bei den 2009 eingeleiteten KCK-Verfahren gegen die kurdische Zivilgesellschaft geht es offensichtlich um die Schaffung einer Konstruktion, mittels derer politische Feinde aus dem Verkehr gezogen werden sollen. Diesmal im Visier: Ekrem Imamoğlu, Oberhaupt der Stadtverwaltung Istanbuls. Der CHP-Politiker hatte der AKP von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan 2019 das wichtigste Bürgermeisteramt der Türkei abgejagt. Das Milliardenbudget der 16-Millionen-Metropole, aus dem die AKP ihr klientelistisches Netzwerk unterhalten hatte, beeinflusst die Machtverhältnisse im ganzen Land. Entsprechend reagierte die Palastführung auf den Verlust und nutzte seitdem jede Gelegenheit, Imamoğlu auszubremsen und sein Rathaus mit Problemen zu überhäufen.

DIAYDER nur ein Opferlamm

Konkret versucht die Anklage, zwischen DIAYDER und der Stadtverwaltung von Istanbul einen strukturellen Zusammenhang herzustellen –  um den Oberbürgermeister aus dem Rathaus zu hieven. Alle Beschuldigten in dem Prozess tauchen auch in der vom türkischen Innenministerium im Dezember eingeleiteten Untersuchung gegen die Stadtverwaltung wegen vermeintlichem Terrorverdacht auf. Angeblich würden gegen mehr als 550 der rund 33.000 unter Imamoğlu eingestellten neuen Beschäftigten Beschwerden wegen vermeintlicher Verbindungen zu „Terrororganisationen“ vorliegen, allein 455 beträfen die PKK. Merkwürdig ist nur, dass alle neuen Angestellten bereits eine Sicherheitsüberprüfung durch das Innenministerium durchlaufen haben. Die Ermittlungen gegen DIAYDER laufen zudem nach Angaben der Verteidigung der Beschuldigten bereits seit der Vereinsgründung im Jahr 2008. Die Akte soll aber erst jetzt im Zusammenhang mit den Kriminalisierungsversuchen gegen die Istanbuler Stadtverwaltung herausgekramt worden sein.