„Der Krieg wird alle verändern“
Hamit Bozarslan, Professor an der Pariser Hochschule für Sozialwissenschaften, sprach über den Israel-Palästina-Krieg und die Auswirkungen auf die Situation der Kurd:innen im Nahen Osten.
Hamit Bozarslan, Professor an der Pariser Hochschule für Sozialwissenschaften, sprach über den Israel-Palästina-Krieg und die Auswirkungen auf die Situation der Kurd:innen im Nahen Osten.
Mit dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 und den folgenden Vernichtungsangriffen Israels hat sich die Lage im Nahen Osten grundsätzlich verändert. Prof. Dr. Hamit Bozarslan, an der Pariser Hochschule für Sozialwissenschaften, sprach mit der Tageszeitung Yeni Özgür Politika über den Israel-Palästina-Krieg und die Auswirkungen auf die Situation der Kurd:innen im Nahen Osten. Das Interview erfolgte vor den US-Wahlen, daher ist diese Perspektive für Bozarslan noch offen.
„Ohne den Irrsinn der Hamas wäre eine solche Zerstörung nicht möglich gewesen“
Im Schatten der Angriffe wird häufig von der Ideologie der „Rückkehr ins gelobte Land“ in Bezug auf Israel gesprochen. Wie ordnen Sie das ein?
Zuallererst muss Israel verurteilt werden. Aber es muss auch anerkannt werden, dass die Hamas eine große Verantwortung trägt. Vor dem 7. Oktober hat die Hamas gesagt: „Wir haben sie getäuscht, wir haben sie im falschen Glauben gelassen, während wir uns auf den 7. Oktober vorbereitet haben.“ Vor dem 7. Oktober war der Gazastreifen ein Gebiet mit Krankenhäusern, Universitäten, Märkten, in dem man unter sehr schwierigen Bedingungen lebte, das aber nicht zerstört war. Und ich glaube, dass ein solcher Angriff ohne den Irrsinn der Hamas nicht möglich gewesen wäre.
Um auf Ihre Frage einzugehen: Die Entstehung Israels ist ein sehr komplexes Thema. Der Zionismus war eine der letzten nationalistischen Bewegungen im Europa des 19. Jahrhunderts. Die Gründung Israels wurde in den Jahren 1948–1950 auch als Errichtung eines sozialistischen Staates wahrgenommen. Dies war der Grund, warum die Sowjetunion Israel unterstützte. Großbritannien war absolut gegen die Gründung Israels. Andererseits versorgte die Tschechoslowakei Israel 1948 mit massiver Waffenhilfe.
Ursprünglich ging es nicht um die „Verteidigung des gelobten Landes“ oder die Schaffung eines israelischen Staates auf diesem Boden, sondern um die Schaffung eines Ortes, an dem Juden leben konnten. Dieses Projekt bestand zumindest bis zum Sechs-Tage-Krieg von 1967. Auch danach, bis zu den Osloer Verträgen vom 20. August 1993, war das Projekt nicht „das gelobte Land“, sondern ein Herrschaftssystem, gegen das Palästina keinen Widerstand leisten konnte.
Die von Ihnen beschriebene Idee der „Rückkehr ins gelobte Land“ ist eher ein Phänomen, das nach 2005, nach der Ermordung von Yitzhak Rabin im Jahr 1995, immer mehr in den Vordergrund trat. Bis 2005 war ein Teil der israelischen radikalen Rechten und der religiösen Extremisten sogar deutlich gegen die Gründung des Staates Israel. Aber nach der Ermordung Rabins verschob sich das ganze System allmählich nach rechts, und mit dieser Verschiebung kam ein sehr radikaler Nationalismus auf. Und wir sehen, dass dieser Nationalismus eine eschatologische [endzeitorientierte] Dimension angenommen hat. Die Idee vom „gelobten Land“ ist also ein Phänomen, das die letzten 30 Jahre bestimmt. Es ist nicht möglich, die Geschichte Israels nur damit zu erklären.
Wenn wir die Entwicklungen vom 7. Oktober 2023 bis heute betrachten, kann es dann noch Hoffnung auf Frieden geben? Was ist die Strategie und das Ziel des Staates Israel?
Es ist sehr schwer zu sagen, ob Israel eine Strategie hat. Israel ist der Meinung, dass die Bedingungen für das Land sehr günstig seien, insbesondere vor den Wahlen in den USA. Obwohl Israel den Angriff vom 7. Oktober sicher nicht erwartet hat, haben die Angriffe der Hamas und später der Hisbollah Israel Legitimität verliehen. Dabei geht es um den Mythos von Israel als einziger Supermacht in der Region. Im Jahr 2006 hat Israel bei seinem Angriff auf die Hisbollah in gewisser Weise eine Niederlage erlitten. Diese Niederlage hat Israel jedoch immer weiter beschäftigt und die Problematik ist nun noch dramatischer.
Zweitens kann man in Israel schon seit vielen Jahren nicht mehr von Demokratie sprechen. Was derzeit in Israel existiert, ist zum einen eine Kleptokratie (ein System der Ausplünderung und des Diebstahls) und zum anderen ein System, das von Militaristen beherrscht wird. Eine Schicht, die den Krieg führt und verinnerlicht hat und ihn als einen permanenten, ewigen Krieg betrachtet, der keinen Unterschied zwischen äußeren und inneren Fronten kennt. Natürlich weiß ich nicht, wie weit diese Schicht den Krieg treiben wird. Es ist wirklich schwierig, dies zu beantworten.
Eines der Hauptprobleme in Israel ist der Rassismus. Der Wissenschaftler Uri Ben Eliezer hat schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass es in Israel zwei Gesellschaften gibt: die erste ist die politische Gesellschaft, die eine politische Lösung der palästinensischen Frage will und den Staat Israel dafür kritisiert, nicht demokratisch zu sein. Die zweite ist die militärische Gesellschaft, die nicht unbedingt eine Gesellschaft von Soldaten ist. Es ist eine Gesellschaft, die den Staat Israel dafür kritisiert, zu demokratisch zu sein. Es ist eine Gesellschaft, die sagt, dass es nur eine militaristische Lösung für die palästinensische Frage geben kann.
Uri Ben Eliezer weist darauf hin, dass die dominierende und hegemoniale Kraft seit 1993 die militaristische oder militärische Gruppe ist.
Haben die israelischen Angriffe ihr Ziel erreicht? Ist es möglich, dass der Krieg beendet wird und ein neuer Friedensprozess beginnt?
Es ist sehr schwierig, das vorherzusagen. Aber es geht nicht nur um Gaza. Der Gazastreifen ist wirklich dem Erdboden gleichgemacht worden; das Leben wird zerstört. Offizielle Angaben sprechen von 40.000 Toten, aber es muss einem klar sein, dass 100.000 Menschen getötet wurden. Wir sollten auch das Westjordanland nicht vergessen. Die Lage dort ist sehr schlecht. Für die radikale zionistische Bewegung ist es das Entscheidende, das Westjordanland einzunehmen und dort jüdische Siedlungen zu errichten. Der Krieg findet nicht nur an den Fronten in Gaza und im Libanon statt. Die Tatsache, dass der Krieg nach einem Jahr immer noch mit solcher Intensität wütet, lässt nicht viel Hoffnung für die Zukunft aufkommen. Doch wenn Kamala Harris gewählt wird, könnte sich das ändern. Aber wenn Trump gewählt wird, ist klar, dass es keine rote Linie für Israel geben wird.
Die Spaltung der palästinensischen Politik und die Rolle Israels in dieser Politik wurden ausführlich diskutiert. Wie wird diese Situation nach dem Krieg aussehen?
Palästina wurde nicht nur durch die Manipulationen Israels geteilt. Wir sehen, dass das politische System in Palästina sehr fragil ist. Der Verlust an sozialer Dynamik, die schweren Schläge, die die Niederlage der zweiten Intifada mit sich brachte, das Scheitern der Osloer Abkommen ... All das führt zu einer großen psychischen Ermüdung.
Zu dieser Ermüdung kommt hinzu, dass die Hamas eine islamistische Bewegung ist, die sich selbst als dschihadistisch definiert. Der palästinensische Kampf war jedoch ein Kampf, der viele Jahre lang die Linke im Nahen Osten repräsentierte. Dies hat in Palästina zu einer sehr tiefgreifenden Zäsur geführt. Unter sehr schwierigen Bedingungen muss Palästina neue Alternativen, neue Diskurse, neue Zusammenhänge schaffen. Obwohl sie ihre Dynamik verloren hat, ist die Gesellschaft in Palästina sehr jung. Deshalb ist unsere Kritikfähigkeit von großer Bedeutung.
Ich weiß nicht, was die Zerstörung der Hamas für Israel bedeuten würde, aber die Hamas wurde vom Ziel der persönlichen Wut Netanjahus zu einem Ziel der Wut von ganz Israel. Wir sollten dies nicht vergessen: Katar schickte mit Netanjahus Sondergenehmigung jeden Monat 30 Millionen Dollar an die Hamas. Nun ist er entschlossen, die Hamas zu eliminieren. Aber meiner Meinung nach ist es sehr schwierig, ja unmöglich, die Hamas zu zerschlagen. Und es ist auch schwierig für die Hamas, so weiterzumachen.
Das Gleiche gilt für die Hisbollah. Der große Schlag, den die Hisbollah einstecken musste, bedeutet nicht, dass sie verschwinden wird. Aber wenn der Krieg vorbei ist, ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Hisbollah in der Lage sein wird, so weiterzumachen wie bisher. Das gilt auch für Israel. Derzeit gibt es in den jüdischen Gemeinden in Europa und den USA große Spannungen, eine große Opposition gegen Israel. Es gibt viele jüdische Intellektuelle, die sagen, dass Juden, die in der Vergangenheit großes Leid erfahren haben, kein Recht hätten, dies heute den Palästinensern anzutun. Dieser Wandel unter den Juden in den USA und in Europa findet in Israel derzeit nicht statt. Ich bin nicht sicher, ob dieser Wandel die israelische Gesellschaft in naher Zukunft verändern wird. Aber wenn der Krieg zu Ende ist, werden sich auf jeden Fall neue Strukturen bilden.
Im Nahen Osten wird das Spiel neu aufgestellt. Es ist absolut notwendig, aus dieser Grammatik des Todes, dem Diskurs des Todes, der Nekrophilie herauszukommen. Es ist notwendig, vom Thanatos (Tod und Zerstörung) zum Eros (Leben, Liebe) zu wechseln. Wir können nicht länger in dieser Todesspirale bleiben. Aber wie die neuen Organisationen danach strukturiert sein werden, lässt sich im Moment noch nicht vorhersagen.
Wie würde eine mögliche Änderung des Status quo im Nahen Osten in der arabischen Welt aufgenommen werden? Steht die arabische Gesellschaft hinter der Hamas?
In der arabischen Welt gibt es nichts Vergleichbares. Es gibt keinen solchen Akteur in der arabischen Welt. Man will keinen Konflikt oder keine Konfrontation mit Israel in dieser oder anderen Form. Außerdem gibt es für Ägypten nicht den geringsten Grund, die Hamas zu unterstützen. Wir sollten nicht vergessen, dass die Hamas ein Teil und Fortsatz der Muslimbruderschaft ist. Saudi-Arabien und die Emirate haben deutlich gemacht, dass sie keine Ambitionen haben, sich gegen Israel zu stellen. Was für sie wichtig ist, ist die Rettung der Menschen im Gazastreifen, aber das sollte nicht als politische Frage diskutiert werden. Der Irak und Syrien befinden sich in einer äußerst schwachen Position. Es ist nicht klar, was im Libanon vor sich geht. Dann gibt es die Türkei. Aber sie ist kein arabischer Staat. Und die Türkei hat sehr große Ambitionen im Nahen Osten, aber ihr Einfluss ist meines Erachtens extrem schwach. Auch der Iran ist im Moment extrem schwach. Es mag Bedrohungen durch regionale Dynamiken geben, aber sie stellen kein Hindernis für Israel dar.
Die Hamas und die Hisbollah sind Verbündete des Iran und stehen unter seiner Macht. Glauben Sie, dass sich der Iran an einem aktiven Krieg beteiligen wird?
In diesem Zusammenhang muss auch die Frage der Rationalität gestellt werden. Es ist nicht möglich, eine Rationalität hinter dem 7. Oktober zu erkennen. Im Gegenteil, wir können von einer Zerstörung der Rationalität sprechen. Hinter dem Angriff vom 7. Oktober stand, zumindest soweit ich das beurteilen kann, die Logik: „Wenn wir einen regionalen Krieg beginnen, werden wir Israel schwächen.“ Diese Logik ist definitiv nicht aufgegangen.
Das Ziel der Hisbollah war es, Israel in einen blutigen Ping-Pong-Krieg zu zwingen. Es wurde nie in Betracht gezogen, dass Israel die Regeln eines solchen Hin und Her nicht akzeptieren würde. Die Zerstörung dieser Logik ist extrem bedeutsam. Der Kriegseintritt des Irans wäre dann die dritte Eskalationsstufe. Das halte ich im Moment aber wenig wahrscheinlich. Der Iran ist weder militärisch, noch strategisch, noch technologisch, noch wirtschaftlich in der Lage, einen Krieg zu führen. Der Iran hat mehrfach erklärt, dass sein Ziel darin bestehe, mit den USA zu verhandeln und so dafür zu sorgen, dass die USA seine Einflusssphäre akzeptieren. Vor einem Jahr wären Verhandlungen vielleicht noch möglich gewesen, weil die Hisbollah ziemlich stark war. Auch in naher Zukunft könnten Verhandlungen möglich sein. Das sollte nicht ignoriert werden. Aber wenn die Hisbollah schwächelt, wird auch die Position des Iran erheblich geschwächt.
Glauben Sie, dass ein Israel mit neun Millionen Einwohnern in der Lage ist, Damaskus, Bagdad und Beirut durch Krieg und Konflikt unter seinen Einfluss zu bringen?
Israel hat Jordanien nach 1948 unter seinen Einfluss gebracht. Seitdem kann sich Jordanien Israel in keiner Weise widersetzen. Das jordanische Regime versteht sehr genau, was eine „Pufferzone“ bedeutet. Während des Schwarzen Septembers 1970 gab es einen Aufstand der Palästinenser in Jordanien und ein großes Massaker. Ich glaube nicht, dass sich diese Strategie ändern wird. Aber natürlich muss man auch folgende Tatsache einbeziehen: Als wir jung waren, war der arabische Sozialismus auf dem Vormarsch. Alle dachten, dass die US-freundlichen Königreiche in Jordanien und Marokko in kürzester Zeit gestürzt werden würden. Aber alle arabischen Sozialisten wurden gestürzt. Jordanien und Marokko blieben übrig. Im Moment will Bashar al-Assad aus strategischen Gründen, dass Syrien als Pufferzone anerkannt wird und dass er seine mit massiver Gewalt errichtete Herrschaft in Syrien auch aufrechterhalten kann, wenn der Einfluss des Irans geschwächt, wenn nicht gar beseitigt wird. Dann bleibt noch der Irak. Die irakische Gesellschaft ist eine sehr müde Gesellschaft. Und es gibt keinen Grund für Israel, den Irak unter Druck zu setzen.
Die UN und die westlichen Mächte bringen immer wieder eine Zwei-Staaten-Lösung ins Spiel. Ist dies vor dem Hintergrund von so vielen Siedlern im Westjordanland und dem Machtkampf um Jerusalem möglich?
Es muss eine Lösung geben, und sie muss politisch sein. Als die Osloer Abkommen 1993 unterzeichnet wurden, gab es 50.000 jüdische Siedler im Westjordanland. Jetzt sind es 500.000 Siedler. Das ist etwa ein siebtel der Bevölkerung des Westjordanlands. Das macht es schwierig, einen Doppelstaat zu schaffen. Ich habe das Thema nicht sehr genau verfolgt, aber es gibt neue Diskussionen über die Schaffung eines konföderalen Systems. Die Bildung einer Konföderation, nicht unbedingt auf der Grundlage von Land, sondern auf der Grundlage von Souveränität, bei dem jeder seine Zugehörigkeit selbst bestimmen würde ... Eine solche Option ist technisch möglich und könnte sogar die Palästinenser in den israelischen Gebieten einschließen. Ich weiß es nicht, aber es ist sehr wichtig, die politische Vorstellungskraft zu stärken, und das könnte einige neue Entwicklungen hervorbringen.
Welche Auswirkungen hat dieser Krieg auf Kurdistan? Welchen Weg sollten die Kurd:innen einschlagen?
Wenn die Entwicklungen so weitergehen, wird dies unweigerlich Auswirkungen auf Kurdistan haben. Wenn das dortige Regime in eine neue Krise gerät, wird dies auch Auswirkungen auf Ostkurdistan (Iran) haben. Leider ist die Lage in Südkurdistan (Irak) sehr schlecht. Die Wahlen in Südkurdistan sollten ebenfalls betrachtet werden. Es ging darum, den kurdischen Eliten, die ein Stück weit verbraucht sind und ihre Dynamik verloren haben, neue Legitimität zu verleihen. Und ein Teil dieser Eliten distanzierte sich nicht vom Iran, ein Teil von ihnen distanzierte sich nicht von der Türkei. Wir alle haben das seit langem angesprochen. Im Moment müssen die Kurden für ihre eigene „innere Integration“ sorgen. Mit der inneren Integration müssen sie ihren Handlungsspielraum, auch wenn er eng ist, gegenüber der Türkei und dem Iran verteidigen und erweitern, und sie müssen über die diplomatischen Dimensionen dieser Frage nachdenken.
Die zweite Bedingung ist meiner Meinung nach für die Zukunft sehr wichtig. Wenn Kamala Haris gewinnt, kann es eine Integration zwischen Rojava und Südkurdistan geben. Diese Integration bedeutet, dass das kurdische Frage im Nahen Osten als ein einziges Phänomen wahrgenommen wird, dass die Mehrheit und der Pluralismus unter den Kurd:innen anerkannt wird und dass eine Übertragbarkeit erreicht wird. Ich denke, dass es für Kurden im Moment keine Option ist, Palästina oder Israel zu unterstützen. Es ist notwendig, sich mit dem palästinensischen Volk zu solidarisieren. Palästina ist ein unterdrücktes Volk. Aber diese Unterstützung ist keine Unterstützung für die Hamas oder die Hisbollah. Dabei darf es nicht darum gehen, das kurdische Volk dabei zu opfern.