Die Fraueninititive „Arbeit und Rosen“ aus der Stadt Kocaeli im Nordwesten der Türkei startete im Mai die Aktion „Jeden Tag eine Mahlzeit“ mit dem Ziel, das Recht auf eine warme, ausgewogene Mahlzeit pro Tag für jede:n Schüler:in gesetzlich zu verankern. Einige lokale Verwaltungen haben darauf hin Projekte zur Bekämpfung der Unterernährung initiiert, parlamentarische Anfragen an das Bildungsministerium brachten das Thema auch in der türkischen Nationalversammlung auf die Tagesordnung. Die stellvertretenden Ko-Vorsitzenden der HDP-Fraktion, Meral Danış Beştaş und Saruhan Oluç, reichten einen Gesetzesvorschlag an das Bildungsministerium ein, um kostenloses, gesundes Essen in Schulen anzubieten.
In 44,7 Prozent aller Haushalte in der Türkei sind die Kinder unterernährt
Die Fraueninitiative teilte die folgenden Daten zur Ernährungsituation von Kindern mit:
- Das Statistikamt der Stadt Istanbul führte im Rahmen einer Untersuchung zur Kinderarmut eine Umfrage unter Familien mit einem Haushaltseinkommen von weniger als 3.000 TL durch und stellte fest, dass 44,7 Prozent der Haushalte keine ausreichenden Ernährungsmöglichkeiten für Kinder haben.
- Kinder sind aufgrund von Armut gezwungen zu arbeiten. In 3,7 Prozent der Haushalte müssen Kinder unter 15 Jahren außerhalb der Schulzeit einer bezahlten Tätigkeit nachgehen.
- Im Forschungsbericht über die Beobachtung des Wachstums von Kindern im Schulalter in der Türkei wurde 2021 als Ergebnis von Forschungsarbeiten des Gesundheitsministeriums, des Bildungsministeriums und der Hacettepe-Universität festgestellt, dass es bei Kindern aufgrund von chronischem Hunger zu Entwicklungsverzögerungen kommt. Besonders stark seien die in den Städten der Westtürkei meist unter prekären Bedingungen lebenden kurdischen Menschen betroffen. Es wurde betont, dass Untergewicht und Fettleibigkeit, Eisenmangelanämie, Jodmangelkrankheiten, andere Vitamin- und Mineralstoffmängel, Zahnkaries und durch Übergewicht bedingte chronische Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen im Schulalter generell weit verbreitet sind.
Viele Kinder können nur altes, trockenes Brot mit in die Schule nehmen
Zahide Kiper von der Initiative Frauensolidarität im Istanbuler Stadtteil Esenyalı, die die Kampagne ebenfalls unterstützt, sprach mit ANF über die wachsende Armut, mit der sie in ihrer Region konfrontiert sind. „Wir alle kennen die derzeitige wirtschaftliche Lage des Landes. Gerade weil Esenyalı ein Arbeiterviertel ist, wurden unserem Verein bereits viele Fälle von Armut berichtet. Früher gab es auch Menschen, die Hilfe suchten, aber in der letzten Zeit ist die Zahl der Hilfebedürftigen stark angestiegen.“ Die Frauen kämen vor allem wegen Schreibwaren, Kinderkleidung und Schulbedarf, weil in ihrem Stadtteil große Armut herrsche, berichtet Kiper.
Da sie bereits in diese Art von Hilfe involviert waren, hätten sie sich der Kampagne der Initiative Arbeit und Rosen angeschlossen. Die meisten Familien seien von der Kampagne begeistert, jedoch haben viele keine Hoffnung, dass der Staat so eine gesetzliche Regelung einführen wird. „Viele der Kinder nehmen altes, trockenes Brot mit zur Schule, dass sie in Wasser einweichen“, erzählt sie.
Oft sind nicht einmal Grundnahrungsmittel vorhanden
Zahide Kiper wies auch auf die negativen Auswirkungen der ungesunden Ernährung auf die Kinder hin und erklärte: „Ungesunde Ernährung führt bei Kindern in erster Linie zu einem schlechten Entwicklungsverlauf. Es liegt eine Entwicklungsverzögerung vor. Wir sehen, dass Kinder schwach sind und nicht wachsen. Wir sehen, dass sie unglücklich sind. Wir sehen, dass sie sich im Unterricht nicht konzentrieren können. Wir haben letztens eine Familie mit fünf schulpflichtigen Kindern besucht, die unseren Verein um Hilfe gebeten hatte, und wir sahen, dass nicht einmal Grundnahrungsmittel vorhanden waren.“ Die Lage sei schwierig, das Problem könnte durch ein solches Gesetz gelöst werden, meinte Kiper.
Wir fordern ein Gesetz und keine Hilfsaktionen
Auf die Frage, wie sie die Tatsache einschätzt, dass viele lokale Verwaltungen begonnen haben, sich mit dem Thema zu befassen, antwortete Kiper: „Ich denke, dass der Staat selbst, also das Bildungsministerium und das Gesundheitsministerium, zuständig für dieses Problem sind. Ich glaube aber nicht, dass sie sich für den Hunger oder die Gesundheit der Kinder interessieren. Einige Gemeinden haben diese Kampagne unterstützt, aber es gibt viele andere lokale Verwaltungen, die sich nicht für dieses Thema interessieren. Meiner Meinung nach gibt es leider immer noch viele, die denken, dass die Kinder armer Leute nicht studieren sollten.“
Abschließend weist Zahide Kiper noch mal darauf hin, dass es bei der Kampagne nicht um das Bitten um Hilfe ginge, sondern um die Durchsetzung von Rechten der Kinder. „Das ist das mindeste, was jetzt geschehen muss. Das sollte in einem Land, das sich selbst als Sozialstaat bezeichnet, eine Selbstverständlichkeit sein. Denn es geht um Hunger, um den Hunger von Kindern. Kinder sind unsere Zukunft."