Der kurdische Politiker Mehmet Candemir ist in einem Gefängnis an der türkischen Schwarzmeerküste ums Leben gekommen. Laut der Vollzugsleitung soll der 60-Jährige in seiner Zelle in der Haftanstalt Giresun-Espiye einen tödlichen Herzinfarkt erlitten haben. Kurze Zeit später sei er in einem Krankenhaus gestorben. Dies sei den Angehörigen am Montag telefonisch mitgeteilt worden – nebst der Aufforderung, den Leichnam abzuholen, äußerte Candemirs Bruder Ahmet Candemir gegenüber MA.
Mehmet Candemir war von 2014 bis 2016 Ko-Vorsitzender der Partei der demokratischen Regionen (DBP) in seiner Geburtsstadt Êlih (tr. Batman). Gleichzeitig gehörte er dem Parteirat der DBP an. Im September 2016 wurde er im Zuge einer provinzweiten Polizeioperation festgenommen und in der Folge verhaftet. Candemir wurde beschuldigt, an vermeintlich „illegalen“ Wahl-Kommissionen, die im Vorfeld der Parlamentswahlen in der Türkei im Jahr 2015 von der DBP und ihrer Schwesterpartei HDP (Demokratische Partei der Völker) ins Leben gerufen worden waren, mitgewirkt zu haben. Im Januar 2017 wurde Candemir von einem türkischen Gericht in Êlih wegen angeblicher „Mitgliedschaft“ in der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und „PKK-Unterstützung“ zu siebzehn Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt.
Dass Mehmet Candemir an Herzproblemen gelitten haben könnte, darüber liegen seinen Angehörigen keine Hinweise vor. „Wir haben am vergangenen Freitag noch mit meinem Bruder telefoniert. Er sagte, dass es ihm gut gehe und wir nicht besorgt um ihn sein sollten“, so Ahmet Candemir. 2015 saß Mehmet Candemir schon einmal im Gefängnis. Während der knapp einmonatigen Untersuchungshaft in einer Vollzugsanstalt in Kırıkkale war der Politiker vom Wachpersonal gefoltert worden.
Über 80 tote Gefangene innerhalb eines Jahres
In Gefängnissen der Türkei sterben fast wöchentlich politische Gefangene. „Selbstmord“ oder „Tod durch Krankheit“ sind die Diagnosen, die von der türkischen Gerichtsmedizin gestellt werden. Doch an den Todesursachen gibt es massive Zweifel. Familienangehörige und Menschenrechtsorganisationen berichten immer wieder, dass die meisten der verstorbenen Gefangenen entweder exekutiert oder durch Repression, Folter und Drohungen in den Selbstmord getrieben wurden. Nach Angaben des Menschenrechtsvereins IHD starben zwischen 2021 und 2022 87 Gefangene in türkischen Gefängnissen (Stand Juli 2022).