Der türkische Kassationshof hat am Donnerstag das Urteil gegen neun Personen bestätigt, die 2015 als Hintermänner an der Vorbereitung des „Bahnhofsmassakers“ von Ankara mitgewirkt haben sollen. Angehörige der Opfer und das Anwaltskollektiv der Nebenklage befürchten jedoch, dass Verantwortliche schon bald wieder freikommen könnten.
Am 10. Oktober 2015 hat sich in Ankara der schwerste Terroranschlag in der Geschichte der Türkei ereignet. Zwei Selbstmordattentäter sprengten sich inmitten einer Friedenskundgebung vor dem Hauptbahnhof in die Luft. Über hundert Menschen starben, mehr als 500 weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Zu der Demonstration damals hatten die HDP, die Gewerkschaftsverbände KESK und DISK, die Architekten- und Ingenieurskammer (TMMOB) und der Türkische Ärztebund (TTB) unter dem Motto „Arbeit, Demokratie, Frieden“ aufgerufen, es wurde das Ende des Krieges des türkischen Staates gegen die kurdische Bevölkerung eingefordert. Bis heute hat der Anschlag 104 Beteiligten der Friedensinitiative das Leben gekostet.
Die türkische Regierung machte die Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) für die Tat verantwortlich. Die Terrorgruppe selbst bekannte sich jedoch nie dazu. Rund drei Jahre nach dem Doppelanschlag wurden mit Abdulmuttalip Demir, Talha Güneş, Metin Akaltın, Yakup Şahin, Hakan Şahin, İbrahim Halil Alçay, Resul Demir, Hüseyin Tunç und Hacı Ali Durmaz neun von insgesamt 36 Angeklagten 2018 wegen vorsätzlicher Tötung zu lebenslanger Haft verurteilt. Außerdem erhielten sie eine zusätzliche Gesamtstrafe in Höhe von 10.557 Jahren wegen versuchten Mordes in 391 Fällen. Der Kassationshof als oberstes Berufungsgericht der Türkei bestätigte zwar nun die lebenslangen Haftstrafen, korrigierte das Strafmaß wegen versuchten Mordes jedoch mit 379 mal 18 Jahren nach unten. Zur Begründung hieß es, es sei hier nur „beim Versuch geblieben“, weitere Menschen zu töten. Der Freispruch für Yakup Yıldırım wurde gekippt.
Die Angehörigen der Anschlagsopfer und ihre Verteidigung hatten früh vermutet, dass auch Kräfte innerhalb des Staates in das Attentat verwickelt sein könnten und kritisiert, dass die genauen Umstände der Tat nicht aufgeklärt werden sollen. Es gelang ihnen, einen weiteren Prozess gegen mögliche Mittäter zu erwirken, der vor dem 4. Schwurgericht in Ankara weiter anhängig ist.
In dem Verfahren ist auch der inhaftierte Dschihadist Erman Ekici angeklagt. Der Kassationshof entschied nun, dass alle gegen Ekici laufenden Verfahren zusammengelegt werden und die Anklage auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit, IS-Mitgliedschaft und Umsturzversuch lauten muss. Laut der Verteidigung der Opferseite könne die Entscheidung dazu führen, dass Ekici in den Genuss der vorläufigen Haftentlassung kommen könnte. Kritisiert wurde auch, dass Anträge unter anderem von TTB, TMMOB, diversen Gewerkschaften, der HDP, CHP und des Menschenrechtsvereins IHD vom Kassationshof abgewiesen wurden, weil diese „nicht direkte Betroffene der Straftat“ gewesen seien.