Ägyptischer Politiker Bayoumi: „Türkei will eine Besatzung"
Der ehemalige stellvertretende ägyptische Außenminister Jamal Bayoumi kritisiert die fehlende Handlungsbereitschaft der Staatengemeinschaft in Bezug auf die türkische Aggression in Libyen.
Der ehemalige stellvertretende ägyptische Außenminister Jamal Bayoumi kritisiert die fehlende Handlungsbereitschaft der Staatengemeinschaft in Bezug auf die türkische Aggression in Libyen.
Die türkische AKP-Regierung verfolgt ein neoosmanisches Projekt und versucht die ehemaligen vom osmanischen Reich besetzten Staaten unter ihren Einfluss zu bringen. Libyen mit seiner von der islamistischen Muslimbruderschaft beherrschten Regierung stellt in diesem Zusammenhang einen wichtigen Brückenkopf des türkischen Expansionismus in Nordafrika dar. Insbesondere Ägypten fühlt sich bedroht und hat am Montag einem möglichen Militäreinsatz gegen das Vorrücken der Sarradsch-Regierung und ihrer türkischen Hilfstruppen zugestimmt. Im ANF-Interview hat sich der ehemalige stellvertretende ägyptische Außenminister und Botschafter Jamal Bayoumi zu den aktuellen Entwicklungen geäußert.
„Wir sollten nicht abwarten und müssen unsere Staatsbürger verteidigen“
Von vielen Kreisen in Libyen, Stammesführern, Scheichs und dem Parlament kommt die Forderung an Ägypten, sich zur Libyenfrage zu verhalten. Wie bewerten Sie die aktuelle Lage?
In Artikel 50 der UN-Konvention wird das Recht auf Selbstverteidigung anerkannt. Wenn sich jemand hinstellt und sagt, das gelte nur für die innere Sicherheit, so mag das zulässig sein, aber man muss wissen, dass sich im Moment mehr als zwei Millionen ägyptische Staatsbürger in Libyen befinden und Ägypten dazu verpflichtet ist, diese zu verteidigen, und nicht erst darauf warten sollte, bis die Bedrohung die ägyptische Grenze erreicht. Die Türkei spielt zur Kontrolle der Region die Karte der Muslimbrüder aus. Das üble Spiel der Türkei wird von Tag zu Tag offensichtlicher. Gleichzeitig wurde auch in Jordanien eine Entscheidung in diesem Kontext [Verbot der Muslimbruderschaft] getroffen, jetzt muss gemeinsam gegen diese Situation vorgegangen werden.
Sarradsch hat sich mit der Türkei getroffen und ein Abkommen zur gemeinsamen Verteidigung geschlossen. Wenn das richtig ist, dann bedeutet das, dass der türkische Staat mit Hilfe der Milizen, die er aus Syrien und von anderen Orten in die Region bringt, zu intervenieren versucht. Die Treffen [Ägyptens], die in Libyen mit den Stämmen stattfinden, sind wichtig. Es wurden viele Punkte besprochen und dem ägyptischen Präsidenten wurde die Vollmacht zur Intervention gegeben. Sie erkennen unser Recht an, uns gegen alle Bedrohungen gegen Ägypten entsprechend der UN-Konvention zu verteidigen. Wir werden uns auch in diesem Rahmen verteidigen. Wir erinnern daran, dass Großbritannien Ägypten mit der Begründung eines toten Staatsbürgers 70 Jahre lang besetzte. Das reichte aus, um Ägypten zu besetzen und plötzlich mit britischen Kreuzern im Hafen von Alexandria einzulaufen.
Wie soll denn Ägypten Ihrer Meinung nach seine zwei Millionen Staatsangehörigen in Libyen schützen? Besteht nicht die Gefahr, in Konflikt mit der Armee eines anderen Staates zu kommen?
Ägypten hat das Recht, zum passenden Zeitpunkt zu intervenieren. Wir haben drei Erklärungen zu diesem Punkt abgegeben. Zunächst hat der Präsident in einer Rede dazu aufgerufen, sich vorzubereiten. Nach dieser Rede haben alle begonnen, sich Gedanken darüber zu machen, ob Ägypten bereit ist und seine Kriegsflugzeuge die notwendigen Gebiete erreichen können. Die zweite Botschaft konnten wir alle mit dem Militärmanöver verfolgen. Es wurde gezeigt, wie sich die Flugzeuge und die Infanterieeinheiten mit Raketen auf den Krieg vorbereiten. Viele ähnliche Bilder wurden gezeigt. Das, was man nicht sieht, macht deutlich mehr aus. Es wurde ein kleiner Teil der Möglichkeiten Ägyptens vorgeführt. Es ging uns nicht darum, die Bürger Ägyptens für kurze Zeit zu beruhigen. Wir wollten damit den betreffenden Ländern zeigen, dass es hier nicht um ein Spiel geht. Bei der dritten Botschaft handelte es sich um die Aussagen von Außenminister Samih Schukri bei seiner Teilnahme an der Telefonkonferenz des Sicherheitsrats. Wer die Situation genau betrachtet, weiß, dass Ägypten die Mächte und ihre Söldner warnt. Es gibt ein Abkommen zwischen der Türkei, den Mittelmeerstaaten und der EU. Die wichtigsten Punkte des Abkommens drehen sich um das gemeinsame Vorgehen gegen Terror, Menschenschmuggel und Korruption. Aber mit dem Einmarsch der Türkei in Libyen wurden alle diese vier Punkte verletzt und sie werden weiterhin missachtet.
„Die Türkei geht äußerst unethisch vor und will eine Besatzung“
Bedeutet das, dass Ägypten in Libyen intervenieren wird?
Die Türkei geht äußerst unethisch vor und das Problem der Muslimbrüder ist sehr besorgniserregend. Wir haben uns in Ägypten gegen sie gestellt, sie bekämpft und haben ihnen das Rückgrat gebrochen. Wir werden sie beobachten und all ihre Pläne ans Licht bringen. Im Moment stehen die Muslimbrüder in Tunesien ebenfalls kurz vor der Auflösung. Sie sind praktisch am Ende. Auch in Jordanien wurden die Muslimbrüder als illegale Organisation eingestuft.
Geht es der Türkei nur um eine Besetzung Libyens oder auch um eine Botschaft an die anderen arabischen Staaten?
Ja, richtig, diese Ambitionen der Türkei sind nun ganz offen zu Tage getreten. Die Türkei hat vor, Jahrhunderte dort zu bleiben. Das sagt ja Erdoğans Verteidigungsminister selbst, wenn er erklärt, ‚Das ist unser Land, ihr seid gekommen und habt es besetzt‘. Warum geht er dann nicht gleich nach Österreich und Mazedonien? Das alles zeigt ganz deutlich, worum es wirklich geht. Der türkische Staat giert danach, sich Territorien unter den Nagel zu reißen und zu besetzen.
Inwieweit ist Ägypten bereit, die Verlegung von Milizen der Muslimbruderschaft durch die Türkei nach Libyen zu tolerieren?
Ja, die Türkei will mit diesen Gruppen, die sie hier zusammengezogen hat, aktiv in die Situation eingreifen. Sie hat viele dieser Truppen zusammengezogen und es sollen fünf Divisionen aufgebaut worden sein. Die Kräfte, die sie aus Libyen und Ägypten zusammengezogen hat, wird 5. Division genannt. Sie versuchen sich unter die Bevölkerung zu mischen. Die Haltung der Bevölkerung gegenüber diesen Kräften ist klar. Sie sind noch schlimmer als die Milizen. Sie haben gegen uns auch mit Terroristen zusammengearbeitet. Das weiß jeder. Aber ihre Pläne werden genau beobachtet und das wird auch weiterhin geschehen. Die Türkei marschiert darüber hinaus nicht nur in Libyen ein, sondern dringt auch mit Gewalt in Syrien und im Irak ein und besetzt die Regionen dauerhaft.
Warum sagt Ihrer Meinung nach niemand auf internationaler Ebene etwas gegen die systematische Verletzung internationalen Rechts durch die Türkei?
Die Türkei betreibt offene Feindschaft. Erdoğan versucht das Imperium aus der Vergangenheit wieder zurückzubringen, er will den Nordirak besetzen und besetzt Syrien. Ich möchte eine Warnung aussprechen. Die Türkei versucht die letzten Veränderungen als Gelegenheit zu nutzen und Syrien vollständig zu besetzen.
Wir versuchen alle friedlichen und zivilen Wege zu nutzen, um eine Lösung zu erreichen, und wir klopfen an allen Türen. Uns hilft hier Frankreich. Der französische Präsident Macron hatte erklärt, dass sich das Handeln der Türkei gegen die NATO richtet. Auch Deutschland, Italien, Griechenland und Zypern bringen dieselben Klagen gegen die Türkei vor. Wir wissen auch, dass die Vertreter der EU überlegen, welche Sanktionen oder ökonomische Strafen sie der Türkei für ihr aggressives Vorgehen auferlegen können.
Welche Perspektiven konnten Sie von den diplomatischen Treffen mitbringen?
Wir haben begonnen daran zu arbeiten, die Weltöffentlichkeit gegen die Türkei zu gewinnen. Die Situation ist für Europa und die NATO vollkommen offensichtlich und wir erwarten, dass sich diese Position auch auf Russland und viele arabische Staaten ausweitet. Aber auch die US-amerikanische Haltung wird akzeptiert – das heißt, man betrachtet die Türkei als strategischen Partner und benutzt sie gegen Russland. Aber die USA wissen auch, dass ohne Sicherheit für Ägypten nichts im Mittleren Osten möglich ist.
Wie betrachten Sie die Haltung der USA?
Die Haltung der USA spiegelt sich in der Haltung der Golfstaaten wider. Es ist offensichtlich, dass die Golfstaaten von den Plänen der Türkei wissen und sie begreifen.
Wie ist die Haltung der arabischen Staaten zu Erdoğans neoosmanischem Expansionsstreben?
Katar steht an der Seite der Türkei und akzeptiert ihre Haltung. Es geht aber nicht nur um Katar, dahinter stehen noch einige Länder mehr und Kräfte in diesen Staaten. Insbesondere Staaten wie Tunesien und Algerien, welche die Gefährlichkeit des türkischen Projekts bisher nicht sehen, müssen sich mit dieser Frage auseinandersetzen und Position beziehen.